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Leseprobe

Wilhelmine

 

 

 

 

Prolog

 

-2008-

 

So, Kinder, jetzt habe ich wieder viel zu viel erzählt“, sagte Wilhelmine. Sie stand auf und gab ihren soeben noch lauschenden Zuhörern, die selbst gar nicht zu Wort kamen zu verstehen, dass sie jetzt gehen könnten. Sie selbst würde sich ihren Tee brühen, Abendbrot essen und schlafen gehen.

 

Das ist ja ein glatter Rausschmiss!“, reagierte ihr neunjähriger Urenkel spontan, der solange wie gefesselt an den Lippen seiner betagten Uromi hing. Ihre alten Geschichten aus längst vergangenen Zeiten hatte er wie Märchen aufgesogen. Das registrierte Wilhelmine natürlich mit Wohlwollen und amüsierte sich dann köstlich über die Kessheit ihres Urenkels. Doch dann wurde sie mit einem Male nachdenklich.

 

Kinder“, sagte sie nach kurzem Schweigen, „ich hab meine Lebensgeschichte für euch aufgeschrieben. Eigentlich wollte ich ja alles wieder verbrennen und nichts darüber erzählen. Es ist nämlich einiges dabei, was keiner unbedingt wissen muss. Aber ich gebe sie euch trotzdem mit, nur für euch.“ Ihr Sohn hielt plötzlich einen Stapel handgeschriebener DIN-A4-Seiten in den Händen – ein Schatz? Zu Hause angekommen, überflog er fast bis Mitternacht dieses Werk und war sich sicher: Ja, das ist ein wahrer Schatz.

 

Die Nacht wurde kurz, denn früh beizeiten klingelte das Telefon - am Sonntag früh um sieben. Zu dieser Zeit kam nur ein Anrufer infrage. In leiser Ahnung, was nun kommen könnte, nahm er das Telefon zur Hand, aus dem Mutters Worte, wie üblich, nur so heraussprudelten. Der Tonfall verriet allerdings schon ihre innere Erregung. Ob er denn die Seiten schon gelesen hätte, interessierte sie brennend und dass das Geschriebene nicht richtig durchdacht gewesen wäre, erfuhr er weiter. Am Ende sagte sie: „Du musst mir alles, was ich dir gestern mitgegeben habe, unbedingt zurückbringen; sofort!“ Mutter war nun nicht mehr umzustimmen. Da hatte er absolut keine Chance. Wenn sie ihr Werk so dringlich forderte, dann musste er auch nach Burg fahren und es ihr bringen.

 

Was trieb sie zu dieser Entscheidung? Sie hatte doch nur über sich, ihre Verwandtschaft und Bekanntschaft geschrieben. Waren es die Namen, die sie nun plötzlich nicht preisgeben wollte oder ihre solange im Verborgenen gebliebenen Details zu ihren Geschichten?

 

Wilhelmine hatte seit dem nie wieder aus ihrem Leben berichtet. Ihre einmal in den Händen gehaltene Autobiografie und die vielen erzählten Erinnerungen reichten aber, um diesen historischen Roman schreiben zu können. Danke Wilhelmine!

 

 

 

Einige Namen wurden vom Autor geändert, wie es sich Wilhelmine sicher gewünscht hätte.

 

 

 

1

 

Nein, ich war noch nicht richtig wach. Ich träumte in meinem warmen Federbett noch einen schönen Traum aus. Das gleichmäßig rhythmische Platschen, welches seinen Ursprung im Eimer neben meinem Bett hatte, fügte sich nahtlos in diesen Traum ein. Es klang wie eine Melodie mit vielen Tönen, die ich aus jedem Tropfenaufschlag heraushörte. Ich schaute nach oben und sah in der weiß gekalkten Lehmdecke einen großen braunen Fleck, dessen dunkle Umrandung eine abstrakte Form mit kunstvoll versehenem Muster als Inhalt einfasste. Inmitten dieses Fleckes bildete sich wiederholend schnell ein Wassertropfen, der dann im Eimer sein Ziel fand. Meinen Trancezustand beendete ein Knall. Es war die Haustür, die Mama sicher mit großem Kraftaufwand in ihren Rahmen fallen ließ – mit Erfolg. Sie hatte soeben ihre Tochter geweckt. „Mama, Mama!“, rief ich aufgeregt, "der Eimer läuft über!" Dann wurden meine schönen Träumereien endgültig von Mamas Schimpfen abgelöst.

 

Der alte Suffkopf treibt sich nur in den Kneipen herum, anstatt das Dach zu reparieren!“

 

Welcher alte Suffkopf?“, wollte ich wissen.

 

Na Papa, wer sonst? Frag nicht so viel und steh lieber auf! Waschen, Zähne putzen, los, los, wir haben keine Zeit! Nimm das Wasser gleich aus dem Eimer, dann wird er auch nicht mehr überlaufen. Das ist auch nicht so braun wie das Pumpenwasser.“

 

Ja, Mama, ich stehe ja schon auf.“ Ich richtete mich in meinem Bett auf und verharrte einen Moment im Schneidersitz. Die offen stehende Zimmertür gewährte mir einen Blick bis hinauf zum löchrigen Strohdach des Flures. Hier hindurch drangen nun schon erste Sonnenstrahlen, die den eben noch starken Regenguss ablösten. Geblendet sprang ich aus meinem Bett heraus und verfehlte dabei die bereitstehenden Holzpantoffel. Ich stakste auch lieber barfuß durch den weißen Sand des feuchten Fußbodens. Dabei musterte ich meine Fußspuren, die sich von den mit der Harke versehenen parallelen Linien interessant abhoben. Die Träume der Nacht waren nun endgültig gewichen und ich konnte wieder klare Gedanken fassen: Es war Ostersonntag und Mama wollte mit mir zu meinen Patentanten gehen. Das würde bis zum Abend dauern.

 

Schnell füllte ich die Waschschüssel mit dem sauberen Regenwasser aus dem Eimer. Noch zwei Hände mit Wasser ins Gesicht und ich glaubte, fertig gewaschen zu sein. Mama schimpfte aber schon wieder:

 

Keine Katzenwäsche, meine Kleine; du musst doch bei den Patentanten in deinen neuen Sachen auch sauber erscheinen!“.

 

Neue Sachen?“, staunte ich. Ich nahm den Waschlappen und strich mit der harten groben Kernseife darüber. Endlich hatte ich so viel Seifenschaum produziert, dass Mama sich mit meinem Waschen zufriedengab. Dann lüftete sie das Geheimnis des Zähneputzens.

 

Minka!“, rief sie, „Überraschung! Eine Zahnbürste! Jeden Tag werden ab heute die Zähnchen geputzt, damit sie immer schön weiß bleiben und dir nicht verloren gehen. Das darfst du auch nicht vergessen, sonst siehst du bald so aus, wie die alte ‚Sultkanka‘“. Was ich nun als Geschenk in den Händen hielt, war ein Knochen, in dem in gleichmäßigen Abständen kurz gestutzte Pferdehaarbüschel versenkt waren. Mama erklärte mir die Funktionalität dieses „modernen“ Zahnpflegegerätes und dann rubbelten wir mit diesem in meinem Mund herum. „Und das sollte ich nun täglich machen?“ Mutters Geschenke kamen nicht immer so gut bei mir an. Meist waren es praktische Dinge, die ich irgendwann sowieso brauchte.

 

Mama, ich ziehe mich jetzt an.“, rief ich.

 

Minka, warte noch einen Moment mit dem Anziehen!“, antwortete Mama und dann ging sie zum Schrank und kam von dort mit einer wendischen Tracht auf den Armen zurück. Dieses umfangreiche Kleidersortiment breitete sie auf meinem Bett aus. Es fand kaum Platz darauf.

 

Selber genäht!“, sagte sie stolz und wies dabei auf Trägerrock, Schürze, Samtweste, Schultertuch und Haube. Mein Gesicht muss dieses Freude ausdrückende Strahlen meiner Mutter nicht gerade erwidert haben, denn sie fragte verwundert:

 

Freust du dich denn überhaupt nicht?“ In meinem Kopf spielte sich das Anziehen dieser Sachen ab, wovon ich wusste, dass es sehr umständlich war und viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Außerdem fand ich damals Mamas wendische Sachen nicht so schick, wie die der deutsch gekleideten Frauen in Burg-Dorf.

 

Mama, ich will diese Tracht nicht haben!“, sagte ich trotzig.

 

Mutter fiel fast aus allen Wolken. „Aber Kind, du solltest dich über die Tracht freuen und dankbar sein. Andere Kinder im Dorf haben so eine schöne Tracht gar nicht.“

 

Das wusste ich ja, aber ich hätte lieber ein normales schönes Kleid, eines, wie es die meisten Mädchen im Dorf trugen, eines, das ich schnell anziehen und wieder ausziehen könnte.

 

Minuten später stand ich in Unterwäsche vor meiner Mutter und ließ die Prozedur des Anziehens über mich ergehen. Jetzt half kein Weinen und Zetern. Ich musste den ständigen Ermahnungen zum Stillstehen oder zu anderen erforderlichen Handlungen folgen, bis ich nach einer Stunde angezogen und somit reisefertig war.

 

 

 

 

2

 

Wie ein kleines Hündchen lief ich neben meiner Mama her, in der Hand eine Semmel, an der ich kaute. Wir hatten sie als Proviant mitgenommen; nicht zum Sattwerden, denn schließlich sollte bei den Paten noch ein guter Appetit vorhanden sein. Ich hatte mich meinem Schicksal ergeben. Ich betrachtete Mutters wendischen Rock mit den bunten gestickten Blumen drauf. Dann zog ich meine Schürze beiseite und bewunderte die Blumen auf meinem Rock. Auf einmal fand ich diese Kleidung gar nicht so schlecht. Mich plagte ein schlechtes Gewissen. Mama hatte sich bestimmt große Mühe beim Nähen meiner Tracht gegeben, da hatte sie meine Undankbarkeit nicht verdient. Unsere Blicke begegneten sich einen Moment. Jetzt hatte ich meine Mama wieder ganz lieb und als könnte sie Gedanken lesen, nahm sie mich in die Arme und drückte mich.

 

Hand in Hand führten wir unseren Weg ohne ein Wort fort. Ich ertappte mich schon lange dabei, Gefallen an unserer Reise zu finden, hatte meine Störrigkeit längst abgelegt und war offensichtlich mit meiner Mutter auf einer Wellenlänge. Schließlich wollte ich ja Geschenke bekommen. Meine Tracht fand ich nun sogar lustig. Ich sah fast wie Mama aus, nur eben viel kleiner.

 

Meine Mutter war eine kleine zierliche Frau mit einem gutmütigen und Freude ausstrahlenden Gesichtsausdruck. Sie hatte trotz ihres nicht gerade vom Glück verwöhnten Lebenslaufes meist ein Lächeln auf den Lippen. Aber auch Züge, die ich damals noch nicht deuten konnte, fanden sich in ihrem Gesicht wieder. Ein akkurat gekämmter Mittelscheitel teilte ihr schwarzes, langes Haar, das dann am Hinterkopf in einem Knoten endete. Über dem Kopf trug sie stets ein schwarzes Samtband, vielleicht zur Zierde, vielleicht auch für den Halt der Frisur. Zu besonderen Anlässen, wie an diesem Ostertag, trug Mutter aber eine große, weit ausladende Haube. Diese verdeckte natürlich die Frisur. Nur der Mittelscheitel guckte an der Oberstirn noch heraus. Ich kannte meine Mutter nur in ihrer Tracht. Andere Kleidungsstücke hatte sie nicht. Ich konnte sie mir ohne Tracht auch nicht vorstellen.

 

Schritt für Schritt gingen wir unserem ersten Ziel entgegen. Die Vögel zwitscherten. In der Ferne war das Lachen von Kindern zu vernehmen. Vielleicht hatten sie schon ihre Osternester gefunden und waren deshalb glücklich. Ich fühlte mich wie in einer verzauberten anderen Welt. Die Sonnenstrahlen drangen mal grell und dann wieder von den Zweigen verdeckt durch die Kronen der knorrigen Kopfweiden, die unseren Weg rechts und links flankierten. Blumen, die eben noch vom nächtlichen Regen fast erdrückt waren, reckten nun ihre Köpfe befreit in den Himmel. Sie wiegten sich im Wind und nahmen dabei die Morgensonne gierig entgegen, um sich vom Nass der Nacht zu entledigen. Störche schnappten auf den feuchten Wiesen nach Fröschen. Oft überquerten wir Fließe und Gräben, die sich wie Krakenarme durch die Landschaft zogen. Bänke waren es, über die wir dann gingen. So nennen die Spreewälder ihre nach oben gewölbten Brücken, die manchmal nur aus einzelnen Bohlen bestehen. Einem Kahnfährmann begegneten wir, der unter solch einer Bank seinen Kahn voller Gäste problemlos durchstakte. Diese Gesellschaft genoss augenscheinlich genau wie wir die Spreewaldlandschaft, dieses Geschenk der Natur.

 

Burg-Kauper nannte sich das Dorf, in dem wir uns jetzt befanden. Hier sah es anders, als in Burg-Dorf aus. Kleine Wiesen- und Feldflächen waren in diesem Landstrich von Gräben oder Fließen umgeben, an deren Ufern meist Erlen wuchsen. Heuschober - um eine Stange gestapeltes Heu - gaben der Landschaft eine ganz besondere Note. Manchmal ragten diese Heugebilde noch aus den Resten des Winterhochwassers heraus.

 

Als unser Weg unter hohen, Schatten spendenden Erlen an einem Fließ vorbeiführte, stoppte Mama ihren Gang. Sie zog ihr Taschentuch hervor, denn sie hatte Tränen in den Augen. Die plötzliche Traurigkeit meiner Mutter machte mich fassungslos. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie so plötzlich weinen musste.

 

Wir standen vor einem großen Haus. Es stach von den hier vereinzelt stehenden kleinen Spreewaldhäusern, die unserem Haus zu Hause ähnelten, erheblich ab. Es hatte kein Strohdach, wie alle anderen Häuser weit und breit, sondern ein rotes Ziegeldach. Große Fenster mit bunten Butzenscheiben zierten die vorgebaute Veranda. Durch die geschmackvoll verzierte Eingangstür aus Eichenholz wäre ich gern gegangen.

 

Ratlos stand ich neben meiner Mutter und fragte ganz traurig:

 

Mama, warum weinst du denn?“

 

Mutter streichelte mein Haar und sagte:

 

Das war mal mein Elternhaus, hier wurde ich geboren.“ Das konnte ich nicht verstehen und fragte sofort:

 

Und warum wohnen wir nicht mehr hier?“

 

Als ich noch ganz klein war“, sagte Mama, „mussten wir hier alle weg.“

 

Warum?“

 

Ach, das ist eine lange Geschichte. Mein Papa und meine Mama waren sehr reich und hatten dann plötzlich alles verloren. Deshalb mussten wir von hier weg und deshalb sind wir auch jetzt so arm. Später, wenn du größer bist, werde ich dir alles erklären, jetzt bist du noch zu klein dafür.“

 

Mama, ich möchte auch mal reich sein“, sagte ich. Dann war unser Gespräch beendet. Zwei wütende Hunde sorgten dafür. Mama hatte aber auch an alles gedacht. Schnell glitt ihre Hand in die große Tasche des wendischen Rockes, in der sie rohe Knochen aus der Fleischerei ihres Bruders deponiert hatte, extra für solche Zwischenfälle. Die Hunde stritten sich um die Knochen und wir konnten unseren Weg fortsetzen. Meinen Wunsch nach Reichtum hatte ich in der Aufregung erst einmal vergessen.

 

Mein Magen fing an zu knurren.

 

Mama, sind wir bald bei Tante Günther?“, fragte ich.

 

Wir sind gleich da“, sagte Mama. „Sieh nur dort hinten das große Haus, dort wohnt Tante Günther.“ Ich sah ein auf einem Feldsteinsockel errichtetes Haus, auch mit roten Ziegeln eingedeckt.

 

Aber so schön wie dein Elternhaus ist es lange nicht.“, sagte ich.

 

Jetzt sei endlich still!“, sagte Mama, denn Tante Günther erwartete uns schon an der Haustür und begrüßte uns freundlich. „Na Minka, kommst du nach rote Eier?“, fragte sie in wendischer Sprache. Ich konnte sie verstehen, aber antworten wollte ich nicht. Wendisch konnte ich sowieso nicht so gut sprechen. Außerdem zweifelte ich an der Ernsthaftigkeit der Frage mit den „roten Eiern“. Ich sah die Tante ungläubig an. Bunte Ostereier und andere Geschenke hatte ich mir eigentlich als Geschenk vorgestellt und wusste nicht, dass dieser Osterbrauch des Patenbesuches „wir gehen nach rote Eier“ genannt wurde. Neben drei verschiedenfarbigen Eiern bekam ich dann doch noch eine Ostersemmel in Form eines flachen Spreewaldkahnes mit zwei Pfefferkuchen obendrauf - einer mit Abziehbild, der andere ohne. Das krönende Geschenk war aber eine Tasse mit meinem Namen in goldener Schrift versehen. „Hast du auch guten Kuchen?“, fragte ich, nachdem ich meine Geschenke empfangen hatte.

 

Natürlich habe ich auch guten Kuchen!“, sagte die freundliche Frau lachend. Sie hatte sicher das Knurren meines Magens gehört.

 

Getta“, sprach Frau Günther meine Mutter an, „ich hole mal schnell den Kuchen aus dem Keller, die Minka verhungert uns sonst noch.“ Dann ging sie eine mit Klinkern gemauerte Treppe hinab und kam mit einem Teller voller Kuchen bald zurück. Ich bestaunte inzwischen die gut eingerichtete Küche. Die weiß gestrichenen Fenster und Türen und die Fliesen an Wänden und auf dem Fußboden beeindruckten mich. Wir hatten zu Hause keine Küche extra, denn bei uns gab es ja nur einen Wohnraum.

 

Tante Günther“, sagte ich, nachdem ich satt war: „Dein Kuchen schmeckt viel besser, als unser zu Hause.“

 

Ach“, sagte sie, „woanders schmeckt es immer besser.“

 

Minka, frag nicht so viel!“, schaltete sich Mutter nun ein und sagte:

 

Wir werden mal lieber gehen, sonst fragt sie dir noch Löcher in den Bauch. Außerdem haben wir noch einen langen Weg vor uns.“

 

Kaum hatten wir Günthers hinter uns gelassen, da bedrängte ich Mutter mit neuen Fragen:

 

Mama, warum haben Günthers nicht so einen geharkten Fußboden wie wir und warum schmecken die Ostersemmeln und der Kuchen bei Günthers besser als bei uns?“

 

Woanders schmeckt es immer besser!“, bekam ich auch von Mama zur Antwort.

 

Und warum haben die keinen Sand in der Stube?“

 

Das erzähle ich dir später.“

 

Mama, warum schmeckt es woanders immer besser?“, bohrte ich nun energisch nach.

 

Frag nicht so viel und hebe lieber die Beine beim Laufen!“

 

Diese Antwort, die eigentlich keine war, machte mich misslaunig und ich hob nun betont auffällig meine Beine. Dann hatte ich auf einmal begriffen, wie arm wir wirklich waren und dass Mama mir nicht sagen wollte, dass es anderen Leuten besser ging. Ich spürte, dass sie damit höchst unglücklich war und fragte dann doch noch fast leise und beinahe rücksichtsvoll: „Mama, sind wir arm? Meine Mutter sagte nun nichts mehr. Sie zog ihr Taschentuch hervor und versuchte ihre Tränen zu verstecken.

 

Minna“, sagte sie nach einer Zeit des Schweigens, „wir sind sehr arm, aber glaube mir, mit Gottes Hilfe werden wir unsere Armut bald hinter uns lassen.“

 

Mama, weine nicht, es wird bestimmt alles gut!“, sagte ich und dann ging ich in Gedanken versunken neben meiner Mutter her.

 

 

 

Längst hatten wir die nächsten Paten hinter uns gelassen. Die schwere Tracht wurde mir langsam zur Last. Die Haube drückte auf dem Kopf und der Trägerrock hing schwer auf meinen Schultern. Ich fühlte mich schlapp und wurde unzufrieden. Außerdem wollten mir die Beine dann auch noch ihren Dienst versagen. Ich warf mich ins Gras neben dem Weg und nörgelte:

 

Mama, ich kann nicht mehr laufen!“

 

Minna!“, rief Mutter böse, „sofort stehst du auf! Mit dem neuen Rock darfst du nicht im frischen grünen Gras liegen!“ Ich trottete weiter neben meiner Mutter her, müde und mit schmerzenden Gliedern.

 

Es war später Nachmittag, da hatten wir meine letzte Patentante in Burg-Dorf, verlassen. Um mich bei Laune zu halten, sang Mutter mir das Berliner Lied: „Komm Karlinka, komm“, vor. So sang sie dieses Lied, in dem es eigentlich „Karlineken“ hieß. Dann erzählte sie einiges von Berlin, von meinem Vater; vielleicht hatte sie ihn noch nicht vergessen können. Mutter konnte gut erzählen, ihre Geschichten und auch die Lieder hörte ich immer gern.

 

Diesen Osterspaziergang hatte ich mein Leben lang nicht vergessen. Er gab mir zu denken und prägte mich. Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der es viele arme und sehr arme Familien gab. Zu den Letzteren gehörte unsere Familie. Ich hatte unsere Armut an diesem Ostertag das erste Mal so richtig gespürt und auch registriert.

 

 

 

 

3

 

Ostern war vorbei und die Einschulung stand bevor. Ich hatte meine Schulmappe gepackt und freute mich auf den Schulbeginn. Meine Mutter hingegen schien ein Problem zu haben. Sie druckste herum, wollte mir etwas sagen, aber kam nicht gleich mit der Sprache raus. Dann fing sie an:

 

Minka, zu deinem Namen will ich dir, bevor du zur Schule gehst, noch etwas erzählen.“

 

Mama“, sagte ich, „ich weiß doch, dass ich Wilhelmine Renberg bin, oder heiße ich doch Gertrud?“

 

Nein, nein, du bist schon unsere kleine Minka, aber dem Lehrer musst du sagen, dass du Wilhelmine Graz heißt. Das ist dein richtiger Name, den wir dir bei deiner Taufe gaben. Unser Papa ist nicht dein richtiger Papa, deshalb heißt du Graz, wie ich früher auch hieß. Dein richtiger Papa ist ein feiner Mann. Er wohnt in Berlin.“

 

Ich heiße nicht Wilhelmine Renberg?“

 

Nein.“

 

Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich so ganz nebenbei, dass mein Name gar nicht mein richtiger war, und fand erst einmal keine Antwort. Mama hatte mich solange belogen. Ich fing an zu weinen, dann fragte ich:

 

War mein Berliner Papa auch ganz reich wie dein Papa früher?“

 

Ja – der ist immer noch reich!“

 

Mama, dann können wir doch zu meinen richtigen Papa nach Berlin ziehen, dann sind wir auch reich.“

 

Nein, Minka, das geht nicht. Wir haben doch unseren Papa und deine Brüderchen zu Hause. Der Berliner Papa möchte keine Kinder. Das verstehst du noch nicht.“

 

Ich konnte das alles auch wirklich nicht verstehen und sprach kaum noch ein Wort. Mir gingen meine zwei Papas, der arme Papa, mit dem Mama immer nur schimpfte und mein reicher Berliner Papa nicht mehr aus dem Kopf. „Warum sind wir so arm und der Berliner Papa so reich?“, fragte ich mich immer wieder und fing wieder an zu weinen.

 

Mama, ich möchte bei meinem Papa in Berlin wohnen.“

 

Willst du nicht bei deiner Mama und deinen Brüderchen sein?“

 

Ihr sollt alle mitkommen.“

 

Und Papa?“

 

Der alte Suffkopf kann zu Hause bleiben.“

 

Aber Kind, das sagt man doch nicht!“

 

Der ist doch immer besoffen, das hast du ja heute früh auch gesagt!“

 

Mutter schwieg. Ich weinte vor mich hin und konnte mich so schnell nicht beruhigen.

 

Mama“, fing ich wieder an, „wenn ich jetzt Graz heiße, möchte ich auch Trudchen heißen.“

 

Minna, das geht doch nicht“, reagierte Mutter nun ungehalten.

 

Wenn es nach Tante Pauline ginge, würdest du wirklich Trudchen heißen, weil Gertrud ein Berliner Modename ist. Die anderen Paten meinten aber, dass Minka viel schöner wäre, weil das besser zu dir passen würde.“ Sie sagten: „Was sollst du denn mit so einem städtischen Namen als spätere Bäuerin mit einem wendischen Rock auf dem Arsch?“ Ich fand das lustig und lachte laut. Meine verschiedenen Namen sprangen aber weiter durch meinen Kopf: „Eigentlich heiße ich Wilhelmine. Trotzdem ruft Mama manchmal Minna, na ja, Mama und die anderen Tanten sagen ja immer Miena. Und nun heiße ich auch noch Graz?“

 

 

 

Am ersten Mai 1925, einem Freitag, wurde ich als „Minna Graz“ eingeschult. Gemeinsam mit all den anderen Schulanfängern betrat ich das Klassenzimmer und hatte auch bald meinen Platz gefunden. Meine Augen waren auf einen großen bunten Tütenhaufen gerichtet. Was es damit auf sich hatte, erklärte der Lehrer in seiner ersten Amtshandlung.

 

Bevor die Schule so richtig beginnt“, sagte er, „bekommt jedes Kind eine Zuckertüte“

 

Ein lautes begeistertes „Jaaa!“, aus vierzig kleinen Kinderkehlen hervorgerufen, erfüllte den Klassenraum. Dann rief der Lehrer alle Kinder beim Namen auf und gab ihnen je eine dieser kleinen bunten Tüten. Mich schien er vergessen zu haben, denn ich wurde nicht aufgerufen.

 

Während die anderen Kinder schon ihre bunt glänzenden Tüten bewunderten, schoss ich in meiner Bankreihe hoch und verdrehte mir beinahe den Hals in dem Glauben, dass noch irgendwo in einer Ecke eine Zuckertüte stehen würde. Der Lehrer hatte keine vergessen. Auch mich hatte er nicht vergessen. Er stellte sich direkt vor meinen Platz und dann sprach er mich von oben herab mit meinem neuen Namen an. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich mit diesem Namen angesprochen. Aber Mama sagte doch, dass ich Wilhelmine Graz heiße, er aber sagte:

 

Na Minna Grazia, hat man dich vergessen?“

 

Ich heiße Wilhelmine Graz!“, presste ich aus meinem Mund.

 

Ja, ja, ich weiß das“, sprach er vor sich hin. „Normalerweise müsstest du die größte Tüte bekommen.“ Dann legte er eine kleine spitze graue Tüte auf meinen Platz und sprach weiter: „Deine Mutter hat nicht das Geld für eine Zuckertüte und schon gar nicht für den Inhalt.“

 

Ich sank mit herunterhängendem Kopf auf meine Bank zurück und hielt die Hände vor mein Gesicht. Obwohl ich nicht weinen wollte, kullerten die Tränen nur so aus den Augen heraus und weichten das vor mir liegende graue Tütenmaterial auf, aus dem sich bald einzelne Bonbon herauslösten.

 

Auf Bonbon hatte ich aber keinen Appetit mehr. Ich war wütend. Durch meine Finger sah ich zu dem Lehrer auf und mir wurde in dem Moment bewusst, dass er mir die Tüte geschenkt hatte, weil Mama für mich keine Zuckertüte drüber hatte. Jetzt kamen mir wieder Mutters Worte von Ostern in den Sinn: „Wir sind sehr arm.“ Ich biss die Zähne zusammen und nahm meine Hände vom tränenverschmierten Gesicht. Auch wenn ich nicht in der Lage war, klare Gedanken zu fassen, so hatte ich aber eines begriffen: Ich war ein Außenseiter. Ich wollte keiner sein, aber ich war machtlos, dagegen etwas zu tun. In dieser Situation half mir keiner. Ich hatte mich eigentlich auf die Schule gefreut, aber die erste Stunde hatte mir diese Freude genommen. Trotzdem besann ich mich am Ende der ersten Schulstunde der Worte, die mir im Vorschulalter immer wieder nahe gelegt wurden: „Du musst in der Schule fleißig lernen, damit es dir in deinem Leben einmal gut gehen wird oder, damit du einmal viel Geld verdienen wirst.“ Nun war mir bewusst geworden, wie wichtig das Lernen in der Schule für mich sein wird. Ich wollte ab sofort alles für meinen Traum tun, einmal reich wie mein Berliner Papa und wie mein Opa es damals war, zu werden. Mit der Wut der Ungerechtigkeit im Bauch wurde aus mir gleich am Anfang meiner Schulzeit eine kleine Streberin.

(Illustrationen fehlen in dieser Leseprobe)

 

 

Leseprobe

Liebes Lovestory

 

 

 

Prolog

 

Die Reifen des schweren Gold-Metallic lackierten Mercedes arbeiteten sich durch den hohen weißen Sand.

 

Das muss er schon abkönnen“, murmelte Christian Liebe mit ein wenig Stolz vor sich hin. „Von der Sandwüste hatte Jonas allerdings nichts gesagt, nur, dass hier niemand hinfinden würde.“

 

Diese Wildnis muss man aber auch erst mal finden“, erwiderte Lina. Sie schaute in den Rückspiegel und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als würde sie selbst das Auto durch die Botanik manövrieren. „Was hat denn deinen Enkel überhaupt dazu bewogen, ausgerechnet in dieser Einöde Urlaub zu machen?“

 

Mir hat er erzählt, dass er geil darauf sei, mit seinen Kumpanen ungestört, ohne Weiber, Eltern, eben ganz allein mal so richtig die Sau herauszulassen.“

 

Und nun kommen wir? Das passt doch nicht.“

 

Passt schon, schließlich muss ich meinen Gewinn abholen, hab die Wette gewonnen – hergefunden.“

 

Gewinn?“ Lina lachte, „den werden die Fahrkosten allemal schlucken.“ Sie ließ die Seitenscheibe nach unten gleiten. Der harzige Duft von Kiefernholz strömte in das Wageninnere. Gesprächsfetzen drangen an die betagten Ohren, wurden zunehmend verständlicher.

 

Das ist Jonas! Das ist Jonas!“, rief Christian aufgedreht. Er stoppte den Wagen, dann hörte er seinen Enkel, dessen Stimme nicht gerade Hurra schreiend klang, im Dialog mit einem Berber von Mensch sprechen.

 

Da kommt mein Opa, und ich dachte, der findet nicht her!“

 

Lass gut sein, Bruder“, röhrte der Große mit voluminöser, tiefer kratziger Stimme. Mit seinem Bart sah er wie der Riese vom „Tapferen Schneiderlein“ aus Grimms Märchen aus. „Deinen Opa nehmen wir in unseren Clan auf.“

 

Und die Alte da?“

 

Lina hielt ihre Hand vor den Mund und prustete los:

 

Ich kann nicht mehr, der Junge ist einfach klasse.“

 

Christian öffnete die Autotür und ließ seinen Blick kurz über den Ort des Geschehens schweifen, als wäge er ab, ob es sich lohne, auszusteigen. Die Gespräche stockten, nur der Bärtige hatte noch etwas zu sagen: „Joni, bleib doch mal schön geschmeidig!“, dann stapfte er in Richtung Nobelkarosse. Christian Liebe kam ihm bereits entgegen.

 

Tach Großer!“

 

Hey Christian!“

 

Umarmung, Schulterklopfen; eine Begrüßung wie unter alten Freunden, dabei kannten sich die beiden nur von zwei, drei Feiern, zu denen Jonas diesen Herkules nach Hause eingeladen hatte.

 

Christian streckte sich, beschattete mit der Hand seine Augen und schaute in alle Himmelsrichtungen. „Jonas hat recht, das hier ist wirklich der Arsch der Welt – Bäume, Bäume und noch mal Bäume und dieser Tümpel, na ja, Jonas sprach von einem See.“

 

Ha!“, stieß der Hüne aus. „Aber Fische sind drin, da gucke, die ziehen gerade einen raus, ein Prachtexemplar. Ach, komm doch erst mal mit.“

 

Komm ran, Opa!“, rief einer aus der Gruppe, die um ein Lagerfeuer herum saß.

 

Liebe fühlte sich gut, wie in alten Zeiten. Damals kampierte ich mit meinen Kumpels genauso tagelang in irgendeiner Einöde, sann er zurück. Auch wir wurden überrascht, jedoch von Mädels, die dieses Versteck fanden. Jetzt nach fast sechzig Jahren so etwas erleben? Das ist schon ein Hammer.

 

Die engen Jeans und das AC/DC-T-Shirt verbargen bei aller Liebe nicht das Alter dieses Christian Liebe. Jedoch sah man ihm die Fünfundsiebzig bei Weitem nicht an. Sein bewegtes Leben hinterließ keine Falten oder gar Altersflecke. Mit einer straffen, gebräunten Haut und der sportlichen Figur würde er auch als Fünfundsechzigjähriger durchgehen. Das hatte er den Gesprächen der am Feuer Sitzenden wohlwollend entnommen. Doch dann wiesen ihn knöcheltiefer Sand und die schnellen langen Schritte seines Weggefährten in die Schranken.

 

Nein, Liebe, zwanzig bist du nicht mehr, stellte er fest, keuchte und gab sich dennoch mit flotten Sprüchen cool.

 

Ich weiß, dass ihr hier ohne Weiber seid, aber ich habe noch einen Schatz im Auto, Lina. Darf ich sie ran holen?“

 

Opa, wer ist Lina?“, schaltete sich Jonas augenblicklich ein. „Ich habe sie ja im Auto schon gesehen, aber wer ist sie? Hast du mit ihr etwa so ein kleines Bratkartoffelverhältnis?“

 

Lachsalven.

 

Jungs, sehe ich wie ein Seitenspringer aus? Zu Hause ist schon alles stimmig.“

 

Jetzt sprach der Bärtige sein Machtwort: „Hole deine neue Flamme, wir wollen sie auch kennenlernen.“

 

Christian bewegte sich gemächlich zum Auto und war mit Lina bald zurück.

 

Mit den Worten „Tolle Karosse“, empfing einer der Jungs die zwei.

 

Tolle Frau, würde ich eher sagen“, witzelte Christian.

 

Gejohle.

 

Jonas grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Das ist mein Opa, wie er leibt und lebt.“

 

Der Benz ist schon nicht schlecht“, antwortete Christian wieder ernsthaft. Ein genüsslich amüsanter Zug in seinem Gesicht verriet, wie sehr ihm diese Atmosphäre gefiel. „Viel wichtiger ist es aber, das Leben in allen Zeiten so zu gestalten, dass man Spaß daran hat. Eine schöne Jugendzeit gehört nämlich auch dazu. Davon zehrt man ein ganzes Leben.“

 

Christian legte seinen Arm um Linas Schulter und fragte beinahe wie ein jung Verliebter: „Stimmts Lina?“ Dann schlenderte er mit ihr in Richtung Feuer. Zwei hochkant gestellte Bierkästen boten ihnen der Situation entsprechend bequeme Sitzgelegenheit. Lina war dabei, sich zu setzen, da schoss sie wieder hoch, als habe sie auf der Kiste einen Schmutzfleck entdeckt.

 

Ich möchte mich vor Christians Frage nicht drücken“, sagte sie und sah allen in der Runde fest in die Augen. „Wenn er es noch nicht gesagt hat, dann sage ich es jetzt. Wir zwei haben eine schöne gemeinsame Sturm-und-Drang-Zeit genossen, hatten uns getrennt und haben uns jetzt, genauer gesagt vorige Woche, wieder gefunden.“ Sie sah auf ihre Hände, bevor sie fortfuhr: „Diese Trennung damals war ein Fehler. Merkt euch das, geht diesen Irrweg nicht, wenn ihr die wahre Liebe glaubt, gefunden zu haben.“ Dann wendete sie sich Christian zu, drückte ihm einen unüberhörbaren Kuss auf die Lippen und sagte: „So, nun kannst du weiterreden.“

 

Ach, ich will ja gar nicht so viel reden, nur das noch: Was man zu irgendeiner Zeit versäumt, kann man nicht mehr nachholen. Punkt.“

 

Großes Schweigen – einer sagte, „richtig“, ein anderer klatschte Beifall.

 

Begeisterung sieht anders aus. Liebe hatte das Bauchgefühl, Langeweile zu verbreiten.

 

Übrigens ist meine Karosse nicht zum schön aussehen da“, wechselte er das Thema. „Man kann damit auch nützliche Dinge transportieren. Jonas, hol doch bitte mal meinen Einstand.“

 

Jonas schien zu wissen, wie sein Opa tickte. Er sprang auf und lief mit schnellen Schritten zum Auto. Als sich die Heckklappe öffnete, nahm er sein Handy zur Hand. Was hat der denn nun noch, dachte Christian. Zwei weitere Kumpels eilten Jonas zu Hilfe. Sie hatten den zweiten Kasten Bier am Wickel, da rief Christian: „Stopp, Stopp“, nur einen Kasten, der Rest ist für die Verlobungsfeier!“

 

In diesem Augenblick schaltete sich der Bärtige wieder ein: „Ey, Christian, eure Verlobung feiern wir am besten gleich hier!“

 

Ohne Ringe?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute Christian in die Runde. Lina feixte und ihr Verlobter in spe fand den Vorschlag aus Sicht der Dinge nicht mehr verkehrt. Jonas kehrte inzwischen mit seinen Kumpels, einer Gitarre und den Bierkästen zurück.

 

Gut“, sagte Christian, grinste und warf die Hände in die Luft. „Dann greifen wir die drei Kästen Bier mal an. Und meiner Gitarre, die ihr mir freundlicherweise mitgebracht habt, werde ich bei dieser Gelegenheit ein paar Töne entlocken.“ Zwei jugendgemäße Lieder, wie er mutmaßte, gab er zum Besten, dabei schielte er immer wieder auf seine Zuhörer. Werden sie endlich mitsingen, diese Hits aus den aktuellen Charts? Er legte sein Instrument ab.

 

War gut, aber ich stehe mehr auf Doom Metal“, sagte einer. Ein anderer meinte, „Crossover wäre auch nicht schlecht, reich doch das Gerät mal rüber.“

 

Weder Klassik noch Pop hatte der in seinem Repertoire, nein, er begleitete einen kräftig singenden und textsicheren Jugendchor zu dem alten Heinokracher „Blau blüht der Enzian“.

 

Verrückte Welt“, meinte Christian nach weiteren Hits vergangener Zeit, „wir hatten uns früher in dem Alter gar nicht getraut, deutsch zu singen, schon gar nicht fünfzig Jahre alte Schlager. Wir kannten keine deutschen Schlagertexte. Stones und Beatles waren angesagt. Am Lagerfeuer sangen wir aber auch so etwas Ähnliches. Lina, kennst du noch das Lied vom kleinen Haus am Rio Grande? Komm, wir singen das mal vor.“

 

Dieser Gesang setzte das i-Tüpfelchen auf eine gelungene Überraschung. Es roch nach Gesottenem und Gebratenem, eine lange Nacht war abzusehen. Vom anderen Ufer des Sees klang Mädchengelächter rüber. Da mahnte Lina zur Abfahrt. Selbst Liebe hatte nicht die Absicht, sich zu verewigen, gedachte nicht, dem jugendlichen Geschehen im Wege zu stehen. Jonas hatte das bemerkt und bewirtete seine Gäste vor ihrem Aufbruch mit gegrillten Leckerbissen. „Wenn es am schönsten ist, muss man gehen“, warf sein Opa inmitten der prächtigen Stimmung ein. „Danke für eure Gastfreundschaft. Lina und ich, wir zwei haben nach längerer Abstinenz eine Menge nachzuholen, ihr werdet verstehen, dass wir nicht bis zum Tagesanbruch bleiben können. Still und leise schleichen wir uns aber nicht davon, ein von mir geschriebenes Lied soll jetzt vor auserlesenem Publikum seine Primäre bekommen. Ich möchte es euch mit meiner bezaubernden Partnerin Lina vortragen.“

Lina boxte Christian in die Seite. „Charmeur“, sagte sie, fiel dessen ungeachtet in seinen Gesang mit ein.

Manchmal fragst du dich,

hast du den rechten Weg gewählt?

Hast du dein Leben richtig aufgebaut?

Du warst doch noch zu jung,

um alles wirklich zu verstehen 

und hast dich deinem Schicksal anvertraut.

Die Freiheit, die dir wichtig war, hast du bald eingestellt, 

denn Freiheit ist auch manchmal Einsamkeit.

Dann warst du fast ein Leben lang in dieser heilen Welt, 

   doch dachtest oft auch an die Jugendzeit. 

  

   Diese Sinfonie der Liebe, des Sonnenscheins, 

   der Sehnsucht, des Glücklichseins, die du hast einst erlebt,

   bleibt für immer auch Erinnerung und Träumerei,

   fern deiner Wirklichkeit, in der du heute stehst. 

 

   Die Jugendzeit verflog geschwind,

   längst ist dein Haar ergraut,

   doch rings um dir die Welt sich weiter dreht. 

   Sie dreht sich schnell, du merkst es kaum,

   und eh du dich versiehst, 

dein Enkel vor dem Traualtar steht. 

 

   Das Leben ist so herrlich, man muss es nur verstehen, 

in allen Zeiten mit ihm umzugehen. 

 

   Diese Sinfonie der Liebe, des Sonnenscheins, 

   der Sehnsucht, des Glücklichseins, die du hast einst erlebt, 

   bleibt für immer auch Erinnerung und Träumerei, 

   fern deiner Wirklichkeit, in der du heute stehst. 

 

Das Lied war zu Ende, kein Wort fiel, bis der Bärtige sagte:

Christian, ich habe genau zugehört und glaube verstanden zu haben, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“

 

Einer der Jungs fing an zu singen: Diese Sinfonie ….

 

Davon bin ich überzeugt“, sagte Liebe zustimmend. „Genießt euer Leben zu allen Zeiten in vollen Zügen. Nehmt euch für die schönen Phasen des Lebens auch viel Zeit, aber geht mit ihm behutsam um, ihr habt nur eines.“

 

Das wollen wir versuchen“, versicherte ein anderer. „Dein Lied hat mir übrigens auch gefallen. Es wäre aber schön, wenn du uns beim nächsten Mal etwas aus deinem Leben erzählen könntest. Das stelle ich mir sehr interessant vor.“

 

Und ob das interessant war, ich will euch das gern erzählen. Ihr braucht dazu nur mein Hörbuch ‚Liebes Lovestory‘ downloaden.“

 

Während Christian und Lina sich verabschiedeten, schauten die neu gewonnenen Freunde längst auf ihre Handys. Sie hatten das Buch gefunden, ihre Mienen verrieten es.

 

 

1. Kapitel

 

Christian packte zufrieden seine Trompete, Notenständer und Noten zusammen. Im Hintergrund wartete eine Tanzgruppe einsatzbereit auf ihren Auftritt, den der Conférencier längst angekündigt hatte. Mit Witzen versuchte er, die Zuschauer bei Laune zu halten. Er hatte es nicht leicht. Die eben noch von den packenden Rhythmen des Orchesters gefesselte Menschenmenge strömte wie ein Bienenschwarm auseinander. Eine schwere Hand spürte Christian auf seiner Schulter.

 

Junge, gut gemacht“, sprach ihn ein älterer Musikerkollege an, „aber wir müssen jetzt das Feld räumen.“

 

Hm“, reagierte Christian. Er hatte keinen Bock auf ein Gespräch. Die beiden verabschiedeten sich und verließen in unterschiedliche Richtungen die Bühne.

 

Aus den Lautsprecherboxen war das Hüpfen und Springen der Tänzer neben leise eingespielter Zupfmusik zu hören. Nur gut, dass ich Musiker bin, urteilte Christian, indem er seinen Blick zur aktuellen Szene wandte.

 

Es war drückend heiß. Die Sonne sandte ihre Strahlen an diesem nach ihr benannten Tag erbarmungslos auf den Festplatz. Dieser Nachmittag war schweißtreibend für die Instrumentalisten des Orchesters. Die Zunge klebte Christian am Gaumen. Sein weißes Hemd haftete wie angeleimt an seinem Körper, es war klitschnass geschwitzt. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als einen Schluck Wasser. Der Getränkestand am anderen Ende des Platzes, dort wo die Busse standen, war sein Ziel. Mit den Musikutensilien unterm Arm drängte er sich durch die Menschentraube. Stimmengewirr um ihn herum. Sein Blick fiel auf seinen Orchesterleiter, der in der Menge jemanden begrüßte. Christian wurde von einer Gruppe Damen aufgehalten, die sich eifrig unterhielten. Dazwischen dominierten unüberhörbar die Worte des Dirigenten, der scheinbar in Gedanken vertieft mit seinem Taktstock herumfuchtelte.

 

Ey, Hübi, was machst du denn hier bei uns?“

 

Christian war klar, dass es sich bei diesem Fremden um den Leiter der Bigband „Hübis Musikexpress“ handelte und sofort war seine Neugier entfacht. Mitten in der Menge ließ er sein Handgepäck auf den Boden gleiten. Den enormen Durst hatte er vergessen, die aufgenommenen Worte verdrängten ihn.

 

Wer ist denn dein junger Trompeter?“, vernahm er weiter und sein Herzschlag beschleunigte sich. „Der hat ja ein Solo von allerbester Güte hingelegt. Den würde ich gern bei mir haben.“

 

Christian zuckte zusammen. War ich jetzt allen Ernstes gemeint? Ist das, was aus meiner Trompete kommt, wahrhaftig schon so tadellos, dass ein Herr Hübireit meinem Spiel lauscht, um mich womöglich zu engagieren? Er wähnte sich im falschen Film, spürte die Ellbogen nicht, die er im Gedränge abbekommen hatte und die Blicke, weil er mitten im Weg stehen geblieben war.

 

Der Junge heißt Christian Liebe“, antwortete der Dirigent. „Ja, er ist schon ein ganz Großer, aber das wird nicht funktionieren, er ist erst sechzehn.“

 

Sechzehn erst?“, fragte Hübireit erstaunt zurück, Christian registrierte es mit Hochgefühl. „Hätte ich nicht gedacht. Na ja, er ist ein dunkler Typ. Mit seinen langen schwarzen Locken und dem Bartansatz könnte er durchaus als 18-Jähriger durchgehen.“

 

Ja und die Mädels macht er auch schon verrückt“, ergänzte der Dirigent lachend, „aber, das steht auf einem anderen Blatt Papier.“

 

Hübireit grinste. „Ist eben ein richtiger Musiker. Ich werde mich mal mit ihm unterhalten.“

 

Christian hatte unterdessen seine Sachen wieder aufgenommen, um sich aus dem Blickfeld des Bigband-Leiters zu entziehen. Keinesfalls wollte er als Lauscher ertappt werden. Er schob sich durch die Menschenmenge, doch Hübireit holte ihn ein.

 

Hallo Christian, ich bin der Bandleiter von ‚Hübis Musikexpress‘.“

 

Hallo.“

 

Das ist aber auch eine Hitze heute, habt ganz schön geschwitzt, was?“

 

Ja, ich schwitze immer noch. Mein Hemd ist klitschnass.“

 

Willst du was trinken, ich hab Wasser im Auto.“

 

Ja, gern.“

 

Komm mit.“

 

Wortlos stapfte Christian neben Hübireit daher, der auf dem Weg zum Auto über verschiedene Musikgenres sprach. „Die Blasmusik finde ich auch ganz gut“, sagte er, „wenn sie gut gemacht ist. Apropos, dein Auftritt eben war große Klasse. Das Trompetensolo aus ‚Die Post im Walde‘ habe ich lange nicht so gut gehört. Du würdest sehr gut auch in meine Formation reinpassen. Möchtest du einsteigen?“

 

In Christians Kopf herrschte völliges Chaos. Ich beabsichtige, Musik zu studieren, und bekomme jetzt schon ein Profiangebot und kann es nicht einmal annehmen. Scheiße! Schule, Eltern – nein, ich habe keine andere Wahl, als ihm einen Korb zu geben.

 

Na Christian, keine Meinung?“

 

Doch, doch. Ich freue mich über Ihre Anfrage, aber es kann für mich nicht in Betracht kommen, denn ich gehe noch zur Schule. Später möchte ich einmal Musik studieren. Wenn Sie mich danach noch brauchen sollten, würde ich bei Ihnen gern Trompete spielen, noch lieber singe ich aber und spiele Gitarre.“

 

Desto besser.“ Hübireit ließ sich Namen und Adresse von Christian geben und reichte ihm die Hand. „Ich bin übrigens Bernd und du bist mein perfekter Wunschkandidat. Wir bleiben miteinander in Kontakt.“

 

 

 

Völlig abwesend schlenderte Christian gedankenversunken in Richtung Bus. In seinem Kopf kreisten die Tageserlebnisse, die Melodien, sein Erfolg und vor allem das Interesse an seiner Person hin und her. Seine Beine funktionierten von allein, bis sie auf einmal stoppten. Sie hatten die Wahrnehmung der Sinnesorgane nicht in Empfang genommen, hatten nicht bemerkt, dass sich eine junge Dame in den Weg stellte. In seinem Trancezustand prallte Christian mit ihr zusammen. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, sah er dieses Mädchen vor sich auf dem staubigen Festplatz liegen. Er hatte es umgerannt. Jetzt fixierten ihn von langen Wimpern umrandete große blaue Augen. Sie schienen aus ihren schattigen Höhlen ihm entgegenspringen zu wollen.

 

Ist dir etwas passiert?“, fragte Christian wie hypnotisiert und stellte seine Musikutensilien ab.

 

Ich weiß nicht, ich glaube nicht.“

 

Das Mädchen bemühte sich nicht, aufzustehen. Ihrem Gesicht entwich ein Strahlen, das wie eingemeißelt schien.

 

Hat sie Schmerzen, aber dann würde sie mich doch nicht so anhimmeln oder geht es ihr gut und sie macht mich einfach nur an?

 

Na, dann steh doch endlich auf!“, fuhr Christian die Kleine an. Doch sie rührte sich nicht von der Stelle, sondern sagte:

 

Jetzt tut es weh.“

 

Christian hockte sich nieder und streichelte ihre Wangen. Auf seiner Stirn bildeten sich Sorgenfalten.

 

Was tut weh?“

 

Meine Hand, die ist schon ganz dick.“

 

Christian nahm ihre Hand, bewegte sie in alle Richtungen und sagte: „Ich kann nichts erkennen, werde sie aber vorsichtshalber verbinden.“ Er zog sich sein mit Schweiß durchtränktes Hemd rasch aus und legte mit diesem einen feuchten Kompressionsverband an.

 

Bist du allein hier?“

 

Ja, meine Schwester ist mit dem Bus schon nach Hause gefahren, ich beabsichtigte, den Nächsten zu nehmen, weil ich von dir noch ein Autogramm haben wollte.“

 

Und was machen wir nun? Weißt du was, du stehst jetzt auf und bekommst von mir dein Autogramm, vielleicht hilft das schon.“

 

Das hilft bestimmt“, sagte die Kleine und stand auf. „Und wenn du mir noch ein Lied auf der Trompete vorspielst, bin ich wieder kerngesund.“

 

Christian lachte und nahm das ihm gereichte Flyer seines Orchesters plus Kugelschreiber entgegen. Dann setzte er nach mehrfachem Drehen des Schreibarmes seinen Namenszug auf diesen Werbeprospekt. Seine Sorgenfalten glätteten sich zusehends. Dieses kleine Luder, faustdick hat sie es hinter den Ohren, freute er sich mit stolzgeschwellter Brust. Er hatte soeben sein erstes Autogramm gegeben, einem Mädchen, das ihm bekannt vorkam. Oder ähnelt sie einer Sängerin oder Schauspielerin aus dem Fernsehen? Egal, diese Kleine ist von Kopf bis Fuß nach meinem Geschmack.

 

Die Trompete packe ich jetzt nicht mehr aus“, sagte Christian, „aber dein Lied kriegst du trotzdem.“ Er legte beide Hände zu einer geöffneten Faust zusammen und setzte diese wie eine Trompete an den Mund. Dann blies er hinein und erzeugte damit unüberhörbare Töne, die denen eines Uhus glichen. Der Anfang der Melodie „Oh wie so trügerisch sind Frauenherzen“ tönte aus diesem seltsamen Instrument und erweckte die Aufmerksamkeit der um ihn versammelten Gruppe. Das Mädchen lachte ausgelassen. Christian war sich sicher, „dieser Lady ist wirklich nichts passiert.“ Aber etwas war geschehen und er spürte es in seinem gesamten Körper. Als die Fremde ihm näher kam, vergrub er seine Hände in den Taschen der Jeans, wollte sich so cool zeigen und seine Erregung unter Kontrolle bekommen. Es gelang ihm nicht. Sein Herz pochte vor Aufregung. „Ich, äh“, sagte er und versuchte dabei, seinen Klos im Hals runter zu schlucken, „ich habe mich soeben in dich verliebt.“

 

Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an, tat, als spürte sie seine Erregung nicht, als sie antwortete:

 

Das sagst du bestimmt allen Mädchen.“

 

Nein, Mädchen in der Schule und anderswo brachten mich noch zu keiner Zeit aus der Fassung. Ich hatte mich bisher noch nie verliebt. Du bist wirklich die erste und wirst auch die einzige bleiben. Du hast mich einfach verzaubert.“ Während Christian sich von ihren Anschuldigungen versuchte reinzuwaschen, bewunderte er scheu dieses Mädchen und fragte sich: Und dieses Wunder der Natur, diese Schönheit par excellence hat ausgerechnet nach mir Verlangen? Die blonden langen Haare, strahlend blauen Augen und diese Lippen, naturbelassen, mit Zügen, die er bisher bei keiner Anderen gesehen hatte, verdrehten ihm den Kopf. Er würde sie gern küssen, doch das traute er sich nicht. Er hatte in seinem Leben niemals ein Mädchen geküsst. Und dieses kannte er ja nicht mal beim Namen, hatte ein paar unbedeutende Worte mit ihr gewechselt, mehr nicht. Jetzt legte sie ihren Kopf in den Nacken, sodass sich ihre Lippen den seinen beachtlich näherten. Er bräuchte sich nur ein wenig zu neigen, dann hätte er sein Ziel erreicht. Nein, sagte er sich, und drückte lieber nur ihre Hand. Die Kleine hingegen stellte sich auf Zehenspitzen, schlang ihre schlanken weißen Arme um seinen Hals, zog ihn herunter und hatte so die Distanz der Lippenpaare auf null reduziert.

 

Ich habe mich in dich auch verliebt“, rechtfertigte sie ihren Kuss. „Habe übrigens deine Musik gehört, sie gefällt mir.“

 

Danke“, sagte Christian. Sein Herz fing wieder an zu pochen, als wollte es ihm jetzt aus dem Körper hüpfen. Von Schmetterlingen im Bauch hatte er schon gehört, just in dem Moment waren sie in echt da. Die Gefühle fuhren in ihm Karussell. Lange standen die zwei eng umschlungen auf dem Festplatz. Plötzlich riss er sich, wie von einer Tarantel gestochen, los.

 

Mein Bus! Ich muss zum Bus!“ Er griff nach seinen Musikutensilien, klemmte sie unter den Arm und war im Begriff, sich zu verabschieden. Dabei sah er an der ihm entgegen gestreckten Hand den Verband, der mittlerweile seiner zugedachten Bestimmung nicht mehr entsprach.

 

Ach, mein Hemd“, sagte er, „brauchst du das noch?“

 

Die Kleine nickte. „Hm, ich würde es gern behalten.“

 

Christian schaute derweil in Richtung Bus, dann fluchte er:

 

Verdammter Mist! Jetzt ist er weg.“

 

Wer ist weg?“

 

Na, mein Bus!“ Seine Trompete samt Zubehör stellte Christian unsanft auf den Boden zurück. „Bis zur Abfahrt des Nächsten kannst du das Hemd nun auch noch verwahren, dann brauche ich es aber wieder.“

 

Ey, Uhu!“, rief jemand aus unmittelbarer Nähe. Es war Bernd, der mit seinem Auto neben ihnen auftauchte und durch das offene Fenster den Kontakt suchte. „Christian, du hast ja ungeahnte Talente, aber dass dein Bus weg ist, ist doch nicht so schlimm. Busse wird es geben, manch anderes findet man nur einmal im Leben.“

 

Christian spürte die Schamröte in seine Wangen steigen. „Nun steigt schon beide ein“, sagte Bernd darüber hinwegsehend, „ich fahre euch nach Hause.“

 

Die Kleine wehrte ab: „Danke, mich braucht niemand nach Hause zu fahren, ich nehme den nächsten Bus.“ Dann wandte sie sich an Christian.

 

Das Hemd behalte ich.“

 

Einverstanden“, sagte er, „wenn du es für mich waschen willst, gern.“

 

Nein, waschen werde ich es nie und zurück bekommst du es auch nicht mehr.“

 

Bernd trampelte mit den Füßen, derweil Christian mit der Verabschiedung beschäftigt war. Er entfernte gefühlvoll die umklammernden Arme und damit dieses inzwischen übel riechende Kleidungsstück aus der Nähe seines Geruchsorgans. Dieses Hemd ließ ihm einen herben, abgestandenen Schweißgeruch in die Nase steigen. Dann trennte er seine Lippen von ihren, atmete die wieder unbeeinflusste Luft ein und formulierte mit dem Ausatmen gleich eine Frage, die ihm auf der Seele brannte. Zugleich kramte er ein Notenblatt mit der Überschrift „Gruß ans Liebchen, von Johann Brussig“ aus seinen Utensilien hervor.

 

Hast du auch einen Namen und eine Adresse?“

 

Schreibe“, sagte die Kleine augenblicklich, als würde sie diese Frage lange erwartet haben: „Angelina Lobach, Verda, Dorfstraße Nr. 36. Da wohne ich, aber wenn du mich besuchen wirst, fahre bitte an diesem Haus vorbei, bis hin zu einer Lichtung im nahen Wald. Ich werde am kommenden Sonntag um fünfzehn Uhr an dieser Stelle auf dich warten. Zu mir nach Hause darfst du nicht kommen, meine Hauswirtin ist ein bisschen komisch. Sie will das nicht. Du kannst übrigens Lina zu mir sagen.“

 

Schöner Name, wo bist du denn wirklich her?“

 

Aus Ullersburg, das liegt in so einer Berggegend, da gibt es keine Ausbildung, kaum Arbeit, deshalb bin ich nach Verda gezogen. Meine Schwester wohnt dort drei Häuser weiter.“

 

Nun steig schon ein, darüber könnt ihr ein andermal quatschen“, mahnte Bernd.

 

Okay, ich komme.“ Christian trennte sich nur widerwillig von Lina.

 

Total happy und mit der Gewissheit auf ein Wiedersehen stieg er in das geöffnete Auto, dessen Motor lange warm gelaufen war. Dabei rief er ihr zu: „Bis Sonntag, mein Engelchen!“

 

 

 

Die Zeit schien Christian wie angenagelt. Die Sehnsucht nach Lina wurde ihm von Tag zu Tag unerträglicher, bis sie ihn gar veranlasste, sich am frühen Mittwochabend mit dem Fahrrad auf den Weg in Richtung Verda zu begeben. Er trampelte kräftig in die Pedalen. Auf dem ausgefahrenen Radweg an der Seite einer löchrigen Schotterstraße kam er mühelos voran. Zwei Dörfer hatte er schon passiert, dann erkannte er von weitem schattenhaft Verda, das sich ihm bald als Domäne, einem Überbleibsel aus längst vergangener Fürstenzeit, präsentierte, so wie es Lina ihm beschrieben hatte. Aus Feldsteinen gemauerte riesige Scheunen und Wohngebäude mit rotbraunen Klinkerfassaden und rotem Ziegeldach darauf gaben diesem ehemaligen Landgut einen homogenen Charakter. Dazu passte auch die mit Kopfsteinen gepflasterten Dorfstraße, doch schien sie für sein Fahrrad nicht geeignet. Er wich auf die daneben führende, von Fuhrwerken durchfurchte Sandpiste aus, fluchte, „so ein Kuhnest“, denn er war in einer Fahrspur ins Schlingern geraten. „Komm runter von deinem hohen Ross“, rügte er sich sofort.

 

Blaue Emailleschilder an den Eingangstoren mit ihren weißen Hausnummern darauf waren ein Blickfang, auch weit sichtbar die Nummer 36. Das zur Straße gewandte Giebelzimmer dieses Hauses war Linas, sie hatte es erzählt. Trotz des offen stehenden Fensters war sie im Raum nicht zu sehen. Stattdessen öffnete sich das Hoftürchen. Eine alte Frau mit strähnigen grauen Haaren lugte durch einen Spalt und sah Christian verwundert nach. Es musste die Hauswirtin sein, von der Lina sprach. Lina hatte sie ihm anschaulich geschildert. Ohne seine Absicht anmerken zu lassen, fuhr er weiter in Richtung Wald, entzog sich dem von Neugier erfüllten Blick. Jetzt waren es die Vögel im Wald, die ihn mit ihrem Gesang in Empfang nahmen, ohne irgendeine Abneigung ihm gegenüber erkennen zu lassen. Er stoppte sein Fahrrad, der Baumbewuchs wies vor ihm eine merkliche Lücke auf. Das ist die Lichtung, wo Lina am Sonntag auf mich warten wird, mutmaßte er. Nach wenigen Augenblicken kehrte Christian um und fuhr langsam aus dem Wald heraus. Er nutzte die Straßenseite gegenüber der Hausnummer 36. Jetzt wird die Alte weg sein, hoffte er, aber er hatte sich geirrt. Lina stand unterdes gemeinsam mit ihrer Vermieterin vor dem Hoftürchen. Christian warf sein Fahrrad schleunigst in den Straßengraben und fand hinter einem Baum seinen nötigen Sichtschutz, war aber so nahe an dem Objekt seiner Begierde, dass er die Worte des ungleichen Frauenpaares deutlich verstand.

 

Lina“, hörte er, „wir sollten die Polizei rufen, dieser fremde Mann kommt mir nicht geheuer vor. Um diese Zeit ist hier noch nie ein Fremder lang gefahren.“

 

Die Polizei, konstatierte Christian. Um Gottes willen, die kann ich nicht gebrauchen. Ihm fiel das vergangene Wochenende ein, da brachte er Lina mit seinen Uhu-Imitationen zum Lachen. Diese mithilfe seiner Hände erzeugten Laute werden ihr sein Begehren verkasematuckeln.

 

Ein nicht enden wollendes Uhu-Rufen erfüllte die Umgebung.

 

Der ist aber in diesem Jahr zeitig, früher kam der Uhu erst im Herbst wieder“, wunderte sich die Alte.

 

Heute ist“, sagte Lina mit unterdrücktem Lachen, ein weiterer Uhu-Ruf brachte sie wiederholt aus der Fassung, „ist alles anders. Ach ja, der Radfahrer ist übrigens Max, der trainiert wieder, um mal ein großer Rennfahrer zu werden.“

 

Lachend folgte Lina der Alten in den Hof. Christian hingegen verließ sein Versteck und wartete.

 

Fünf Minuten später war er sich ihrer Nähe sicher. Sie kam aber nicht aus dem Hoftürchen, das Christian in seinem Visier hatte, er sah sie auch überhaupt nicht kommen. Aber dieses unverwechselbare Parfüm, das sie nutzte, verriet ihre Anwesenheit in nicht weiter Ferne. Es erinnerte ihn sofort an seine erste Begegnung mit ihr. Erwartungsfroh verharrte Christian nahezu wie in Schockstarre. Endlich. Schlanke Finger glitten über seine Augen und die ihm vertraute Stimme fragte neckisch:

 

Wer bin ich?“ Da war es um ihn geschehen. Ihren Dialekt fand er imposant, auch wenn sie manchmal in ihm Worte einbrachte, die es in der deutschen Sprache nicht gibt.

 

Lina, mein Engelchen“, antwortete Christian. „Ich habe dich sofort an deinem berauschenden Parfüm erkannt.“ Er entfernte ihre Hände behutsam von seinem Gesicht, drehte sich um und presste seine Lippen auf ihre. Das Funkeln in ihren Augen, die zarten Hände, die in seinen Haaren wühlten und dann streichelnd sein Gesicht liebkosten, verrieten ihre Leidenschaft.

 

Gehen wir ein Stück?“ Lina sah Christian fragend an und zog ihn in die Richtung, aus der er ihr Kommen vermutete. Dabei zwang sie übermütig seine Hand, mit ihrer zu pendeln.

 

Ja, gern. Wo bist du denn so plötzlich hergekommen?“, forschte er, wollte es genau wissen.

 

Wenn du so urplötzlich bei mir erschienen bist, dann musste ich das doch genauso tun“, sagte sie und strahlte Christian mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln an, das für ihn drei Tage zuvor Liebe auf den ersten Blick bedeutete.

 

Übrigens, dass ich Max heiße, wusste ich noch nicht. Und dass ich mal ein großer Rennfahrer werde, auch nicht. Willst du trotzdem mit mir weiter gehen?“

 

Dich haben ’se wohl in die Kulle gekniept!“

 

Was haben ’se?“

 

Na du bist wohl nicht ganz richtig im Kopf.“

 

Christian war von Linas „Max-Idee“ und ihren Neckereien total entzückt. Und da war es wieder, dieses Kribbeln im Bauch. Am liebsten würde er sie auf der Stelle durchknuddeln, aber hier in der Nähe ihrer Wohnung? Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und schlug einen von Brennnesseln begrenzten Weg entlang eines Grabens ein. Ein laues Lüftchen, gemischt mit Stallgeruch, wehte durch die abendliche Dämmerung von Verda. In der Ferne lugte hinter ausladenden Bäumen versteckt ein stattliches Gebäude hervor.

 

Was ist das dort hinten?“

 

Das ist unser Gutspark, das Schloss dahinter ist unbewohnt. Im Park wären wir ungestört. Komm, wir gehen in diese Richtung.“

 

Gute Idee.“

 

Christian kam nicht umhin, seine Blicke hin und wieder abschweifen zu lassen. Ihr blauer Minirock mit auffallend weißen Punkten und dazu eine hellblaue Leinenbluse, deren dünner Stoff die prallen Formen ihrer Brüste preisgab, brachten ihre weiblichen Reize zur Geltung.

 

Viele Zwischenstopps ließen den Weg weit erscheinen. Endlich, die erste Parkbank. Christian wähnte sie für sein Stelldichein geeignet, doch auf weitere Liebeserklärungen schien Lina keine Lust mehr zu haben. Dieser Park barg außer harten Bänken ganz andere Ziele in sich. Einen nahen, urigen Baum, in deren Struktur ihr Rücken passgenau seine Aufnahme fand, bevorzugte Lina. Christian war von diesem Baum auch angetan. Er musterte überwältigt dieses Monstrum von der Krone bis unten zum wulstigen Stamm. Dort blieben seine Blicke hängen. Lina war darin fast verschwunden, hatte ihre Beine geringfügig gespreizt und schaute ihren Freund fordernd an.

 

Denkt sie das gleiche, wie ich?“, fragte sich der romantisch veranlagte Christian, derweil er dem Baum, diesem Relikt uralter Zeiten so manch belauschte Liebesszene andichtete. Augenblicklich verließ er seine Bank, stellte sich Lina gegenüber und zeigte seine Liebesbekundung mit unendlichen Küssen. Bald drehte sie ihren Kopf weg, schlang ihre Arme um Christians Hüften und zog ihn inständig heran. Dann hingen ihre Lippen wieder an seinen und sie flüsterte ihm zu:

 

Christian, ich liebe dich.“

 

Ich liebe dich auch ganz doll“, antwortete Christian mit leiser Stimme, dann tastete er sich unter ihren Minirock. Die Glieder seiner Hand forschten in für ihn unbekannten Welten, bis Lina wie von Sinnen mit sich kämpfte und ihre Hand aus seinem Hosenbund gleiten ließ. Spuren des Glückes bahnten sich ihren Lauf. Christian hing selbstvergessen an Lina, hatte keine Ahnung, wie ihm geschah.

 

In der Ferne rief jemand: „Lina!“

 

Lina drehte ihren Kopf diesem Ruf entgegen. „Die Alte“, sagte sie, „ich muss nach Hause.“

 

Aber vorher verrätst du mir bitte noch, welchen Weg du vorhin gegangen bist, als du zu mir kamst.“

 

Du Quälgeist! Komm mit, wir gehen gleich da lang, dann kennst du ihn.“

 

Durch ein Hintertürchen begaben sich beide zum Nebenhauseingang. Lina zog ihr Schlüsselbund hervor.

 

Ich muss hoch, morgen früh ist Schule. Für dich auch?“

 

Ja.“

 

Die Hauswirtin rief wieder und Lina antwortete, nachdem Christian ihre Lippen freigegeben hatte vom Hinterhof her: „Ich bin auf dem Klo.“

 

Christian neckte die Alte kurz mit einem Uhuruf und entfernte sich, begleitet von dem abklingenden Lachen Linas.

 

Zu Hause angekommen, ging ihm Lina nicht mehr aus dem Kopf. Die Nacht wurde zum Tag und in der Schule fiel er durch seine geistige Abwesenheit negativ auf. Der Lehrer schickte den sonst so aufgeschlossenen Schüler mit einem an die Eltern gerichteten Brief nach Hause. Christian öffnete ihn unterwegs und las, dass sie ihn wegen auffälligen Verhaltensstörungen zum Arzt schicken sollten. Er war nicht in der Lage, mit jemanden über die wahren Ursachen seines Gemütszustandes zu sprechen, schon gar nicht gab er den Eltern diesen Brief. In seinem Zimmer legte er sich aufs Bett und zermarterte sich den Kopf. Seit dem Wochenende war ihm klar, was Liebe bedeutet. Aber warum habe ich mich am Mittwoch nur so dämlich angestellt? Er hatte Angst, Lina zu verlieren. Seine Gedanken drehten sich nur um sie.

 

Es war Freitag. Und bis Sonntag warten? Nein, unmöglich. Christians Entschluss stand fest, am Abend fahre ich nach Verda. Aber das Wiedersehen dem Zufall überlassen, schloss er aus. Er hatte Linas Schlüsselbund mit ausschließlich Bartschlüsseln gesehen. Damit war ihm klar, dass der Zugang zu ihrem Zimmer kein größeres Problem darstellen würde. Sein Gemütszustand hatte sich bei diesen Gedankengängen enorm verbessert, was bei seinem Lehrer für Beruhigung sorgte.

 

Gleich nach der Schule, hämmerte es in Vaters Werkstatt, Christian entwickelte handwerkliche Fähigkeiten. Einen Schraubenzieher hatte er fachgerecht zu einem Nachschlüssel umfunktioniert. Das Corpus Delicti habe ich, der Rest stellt kein Problem mehr dar, so hoffte er.

 

Am späten Nachmittag war Orchesterprobe. Kaum hatte Christian den letzten Ton geblasen, die Trompete eingepackt, da stürzte er wie von Sinnen zur Tür hinaus. Die Frage des Orchesterleiters, „wohin so schnell?“, hatte er nicht beantwortet. Er saß ohne Zeitverzug auf seinem Fahrrad und hatte nur ein Ziel vor Augen, Verda. Drohende schwarze Wolken in seinem Rücken kümmerten ihn nicht, im Gegenteil, sie hatten Sturmböen im Gepäck und trugen ihn fast von allein an sein Ziel. Im Wald versteckte er das Fahrrad und schlich wie ein Indianer, ungesehen und geräuschlos im Schutz der Bäume und Sträucher bis hin zum Nebeneingang des Hauses Nr. 36. Geniale Idee, freute er sich diebisch, während sich die Haustür mit dem Dietrich öffnen ließ. Nur noch eines dieser „Liebesschlösser“ knacken, dann werde ich vor Lina stehen. Christian versteckte seine Trompete unter der ersten Stufe der nach oben führenden schmalen Wendeltreppe und setzte seinen ersten Fuß darauf. „Mist“, entwich es leise seinen Lippen. Die Stufen knarrten und er befürchtete, dass diese Geräusche die Aufmerksamkeit der Hauswirtin erwecken könnten. Beim Blick auf seine Schuhe war ihm klar, diese Quadratlatschen musst du ausziehen. Wie eine Katze schlich er auf allen vieren Stufe für Stufe empor, bis er vor dieser ersehnten Tür stand. Er erahnte sie nur, denn es war finster. Einen Lichtschalter hatte er nicht gefunden, dafür sorgte ein durch das Schlüsselloch fallender Lichtkegel für etwas Orientierung. Christian krümmte seinen Rücken, versuchte, den Dietrich ins Schlüsselloch zu stecken, da öffnete sich die Tür wie von Geisterhand ohne sein Zutun. Lina hat mich bemerkt, schoss ihm durch den Kopf. Mit ausgebreiteten Armen stand er erwartungsvoll vor der sich öffnenden Tür. Das ihm entgegen strahlenden Licht blendete ihn, als er sein Gegenüber umarmte und heftig an sich drückte. Ein greller quietschender Schrei gefolgt von heftigen Lachsalven ließ ihm das Herz in die Hosen rutschen. War es vielleicht die Hauswirtin die ich jetzt umarmt habe, schoss ihm durch den Kopf. Als er wieder klare Bilder sah, wusste er, die Wirtin war es Gott sei Dank nicht. Er drehte sich um und war im Begriff, die Flucht zu ergreifen, doch couragierte Arme hinderten ihn daran. Verdammt, dachte er, dieses Weibsbild ist flinker. Am liebsten würde er sich in Luft auflösen und seinen belanglosen Hausfriedensbruch revidieren. Mit seinen Schuhen in der linken und dem Dietrich in der rechten Hand stand er wie ein begossener Pudel vor der Fremden, wusste jetzt, nicht Lina habe ich umarmt, sondern eine andere, mir unbekannte weibliche Person.

 

Lassen sie mich gehen!“, fauchte Christian sie entnervt an. Diese Frau dachte gar nicht daran, sie hatte ihr Lachen noch nicht aufgegeben und sagte:

 

Du bist sicher Christian.“

 

Ja, ich bin Christian“, stammelte er, „Entschuldigung, ich bin hier falsch!“

 

Du bist schon richtig hier. Wenn du es bis oben geschafft hast, dann kannst du auch reinkommen.“

 

Vom Zimmer her hörte er ein Kichern.

 

Das ist Lina, und die vor mir ist ihre Schwester, klar, die sieht ihr verdammt ähnlich.

 

Christian zog sich seine Schuhe wieder an, ließ den Dietrich in seiner Hosentasche verschwinden und trat ins Zimmer ein.

 

Hallo Lina“, sagte er etwas verlegen und reichte ihr die Hand. Als er mit verbiestertem Blick bei der Schwester zum Gruß ansetzte, wehrte sie ab, „wir hatten doch schon das Vergnügen, aber willst du deiner Freundin nicht wenigstens einen Kuss zur Begrüßung geben?“ Dabei musterte sie Christian auffallend, ihre Lachfalten wichen ihr nicht aus dem Gesicht.

 

Ja, vielleicht ein andermal“, sagte er, drehte sich um und hatte schon die Klinke in der Hand. Lina stellte sich ihm blitzschnell in den Weg und hauchte ihm zu: „Bleib bitte“. Den Begrüßungskuss hatte sie dann selbst in die Wege geleitet.

 

Die Welt könnte für Christian in Ordnung sein, doch er war stinksauer. Dieses alberne Weiberpack. Wenn jetzt die Schwester bloß verschwände, ich würde Lina nicht nur küssen, sondern meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Ihm war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Und die Schwester blieb, schwärmte vom letzten Konzert, auch ein wenig von Christian. Und dann hatte sie zusätzlich eine Belehrung in petto:

 

Lina ist erst fünfzehn Jahre alt und steht noch in der Lehre. Gegen eine Freundschaft habe ich überhaupt nichts, aber bitte nicht zu intim.“

 

Ist ja gut, Karin, mach dir mal keine Sorgen.“

 

Lina schien die Belehrung ihrer Schwester nicht zu gefallen. Christian lehnte sich indes in seinem Sessel zurück, schlug ein Bein über das andere und trommelte mit seinen Fingern nervös auf der Tischplatte herum. Karin setzte augenzwinkernd noch einen drauf, hatte Spaß daran, ihn zu foppen.

 

Weißt du auch, wie einer, der unerlaubt in eine Mädchenwohnung eindringt, bezeichnet wird? Kriminelles Element!“

 

Christian griente und stand auf. „Ich muss fahren.“

 

O, habe ich dich jetzt verletzt? Christian, das wollte ich nicht.“

 

Nein, nein, ist schon gut, ich muss wirklich los.“

 

Kucke doch mal raus“, sagte Lina, „da geht ja die Welt fast unter, du kannst doch lieber noch einen Moment bleiben.“

 

Nein, nein, ich komme schon durch den Regen.“ Christian gab Karin die Hand, verabschiedete sich ordentlich von Lina und verließ die Wohnung. Beim Öffnen der Haustür hatte er die Wetterwarnung sofort verstanden. Ein warmer Gewitterguss, der Linas Eingangsbereich in kurzer Zeit zu einem See verwandelte, empfing ihn. Er überlegte: Doch zurückgehen? Aber da ist ja diese Karin noch und vom Sonntagstreff, wenn er überhaupt noch relevant ist, wird sie in ihrem Beisein nichts sagen. Oder? Er zog T-Shirt und Schuhe aus, klemmte dieses Bündel unter den Arm und rannte zum Versteck seines Fahrrades. Der Himmel hatte sich total gegen ihn verschworen. Dicke Wolken entledigten sich ihrer sommerlichen warmen Wassermassen. Wenigstens war der Sturm inzwischen wie weggeblasen.

 

Mit gesenktem Kopf trat Christian widerwillig in die Pedalen. Da fiel ihm die Trompete unter der Treppe ein. Jetzt nochmal zurückfahren? Nein, ich werde sie Sonntag abholen. Da habe ich wenigstens einen Grund, Lina zu besuchen. Seine misslungene Aktion bei ihr quälte ihn. Wird sie mir das mit dem Eindringen übel nehmen? Zu Hause angekommen, nervte ihn nach seinem Künstlerpech auch noch die Mutter.

 

Na, ihr habt aber heute lange geprobt.“

 

Ach, lass mich doch in Ruhe, ja, ich hatte noch jemand getroffen.“

 

Jemand? Maskulin oder feminin?“

 

Mit seiner ehrlichen Antwort, „Femininum, Plural“, schien er seine Mutter etwas irritiert zu haben. Die ausgebildete Lehrerin schien dem Vokabular ihres Sohnes nicht folgen zu können.

 

Gleich mehrere Frauen?“, fragte sie erstaunt.

 

Ja, und jetzt bin ich müde, gute Nacht!“

 

Christian trottete in sein Zimmer, die Mutter sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Ihre Verwunderung wich auch am Sonntag nicht. Nach dem Mittagessen zog er seine weißen Jeans, das dazu passende schwarze Hemd und die in Mode gekommenen neuen Clogs an.

 

Nanu, wo willst du denn jetzt am Nachmittag so aufgeputzt hin?“, fragte die Mutter verwundert. „Bei den Nachbarn sind wir doch zum Grillen eingeladen. In dieser Aufmachung kannst du doch nicht am Grill stehen! Du gibst mir in letzter Zeit Rätsel auf.“

 

Ist nur ein kleiner Treff.“

 

Mit der weißen Hose?“

 

Ja, es ist halt ein besonderer Treff.“

 

Habe ich keine Zeit zum Grillen. Tschüs, bis Abend.“ Dann radelte Christian total happy los. Dabei überlegte er: „War das am Freitag von mir eine Schnapsidee? Habe ich mir etwa einen Bärendienst erwiesen? Ach, Quatsch.“ Liebeskummer lohnt sich nicht, fiel ihm ein, und er fing an, dieses Lied zu singen. Sein Fahrrad schien die Route allein zu kennen, denn ehe er sich versah, war Verda passiert und diese idyllische Waldlichtung, die er ja am Mittwoch schon flüchtig kennengelernt hatte, erreicht.

 

Der Weg im Wald war noch vom Regen der vergangenen Tage nass. Das störte Christian absolut nicht, im Gegenteil, die dadurch schwarzbraun aussehenden Spuren hoben sich lebhaft von den flankierenden weißen Birkenstämmen mit ihren hellgrünen Kronen ab. Eines stellte er wieder fest. Lina hat ein Faible für Natur. Ein schöneres Fleckchen Erde hätte sie für mein erstes Liebesereignis nicht aussuchen können. Wird es auch bei ihr das erste Mal sein?

 

Voller Erwartung stand er mit seinem Fahrrad in diesem von Bäumen und Sträuchern versteckten kleinen Refugium, deren Boden mit sattgrünem Moos bedeckt war, und rechnete in jedem Moment mit Lina. Die Kronen der Bäume hielten wie ein Vorhang den grellen Schein der heiß strahlenden Maisonne ab. Verschiedenste Farbnuancen, die dieser Monat zu bieten hatte, fanden sich hier zu einem gelungenen Ensemble zusammen. Das ist die gute Stube des Waldes, schwärmte Christian vor sich hin. Doch von Lina war weit und breit nichts zu sehen. Er wurde langsam nervös. Hat sie mich gar zum Narren gehalten? Wird sie überhaupt nach meiner dummen Idee vom Freitag kommen? Mit einem Mal fiel ihm ein Tannenzapfen genau vor die Füße. Er stutzte, denn mitten in der Lichtung stand logischerweise kein einziger Baum. Doch gleich darauf öffnete sich das Dickicht des Waldes, aus dem Lina mit ihrem irren Lachen heraus stürmte. Ihre langen blonden Haare schienen ihrem Tempo nicht folgen zu können.

 

Lina!“, rief Christian überaus glücklich. Er ließ sein Fahrrad fallen und rannte ihr entgegen. Dann lagen sich beide in den Armen, unterhalten vom Rauschen des Waldes und dem Vogelgesang. Besonders gut meinte es ein Vogel, dessen dominanter Gesang vom Rande der Lichtung her nicht enden wollte.

 

Hörst du das?“, fragte Christian.

 

Hm.“

 

Das ist ein Rotkehlchen, komm, wir gehen dort hin.“ Mit dem Fahrrad in der Linken und Lina an der rechten Hand fanden sie ein schattiges Plätzchen direkt in der Nähe des kleinen Sängers.

 

Du, Christian“, wechselte sie das Thema, „ich hab von meiner Wohnung zwei Schlüssel für dich, jetzt kannst du mich immer besuchen, aber heimlich.“

 

Danke, wenn du willst, komme ich jeden Tag. Halte aber Karin fern.“

 

Natürlich, jeden Tag musst du aber auch nicht kommen. Sag mal, woher weißt du eigentlich, dass es ein Rotkehlchen ist?“

 

Ich kenne alle Vogelgesänge“

 

Ich weiß, auch den vom Uhu“, scherzte Lina.

 

Den auch!“ Christian umfasste ihre Hüften, hob sie übermütig hoch und drehte sich mit ihr um die eigene Achse. Dann ließ er sie eng an seinem Körper entlang zu Boden gleiten.

 

Ich muss übrigens meine Trompete noch bei dir abholen, sie liegt unter der Treppe“, wechselte er das Thema.

 

Wie kommt sie denn dahin? Ist auch egal, die können wir jetzt sowieso nicht gebrauchen.“

 

Nein“, flüsterte Christian ihr ins Ohr.

 

Das Rotkehlchen setzte unterdessen seinen Gesang fort, der von seinesgleichen immer wieder beantwortet wurde. Zwischen Christian und Lina hingegen gab es keine Unterhaltung mehr. Sie waren vollauf mit Umarmungen und Liebkosungen beschäftigt, bis sich Lina scheinbar überdrüssig abwendete.

 

Ich bekomme vom vielen Küssen gar keine Luft mehr, weißt du noch etwas anderes?“

 

Ja, ich weiß auch, dass es ein Männchen ist, das sein Revier verteidigen will und nun Antworten von anderen Artgenossen erhält.“

 

Lina reagierte darauf nicht, sie schien ihm gar nicht mehr zuzuhören. Ihre Arme hatte sie um seine Schultern gelegt und hing wie ein nasser Sack an ihrem Freund. So standen sie eine Weile eng umschlungen auf diesem von Moos ausgestatteten Bett. Er vermochte trotz seines übergroßen Liebesbedürfnisses nicht so recht mit dieser Situation umgehen zu können.

 

Von Vögeln scheinst du ja richtig Ahnung zu haben“, fing Lina wieder an zu sprechen.

 

Da hatte es in Christians Kopf „klick“ gemacht. Augenblicklich fanden sich beide im weichen grünen Moos wieder. Seine Gedanken schienen jetzt abgeschaltet. Alles geschah im Grunde von allein und doch setzte er seine Gefühle nicht gleich in die Tat um. Zu erregt war er, um den Reißverschluss der mittlerweile scheinbar um Nummern zu klein gewordenen Jeans zu öffnen. In seiner sexuellen Erregung gelang es ihm nicht. Lina schien die Erwartung des Glückes zur Qual zu werden. Mit geschickten Händen beseitigte sie die letzte Barriere und befreite die bereitstehende Kraft aus seiner Enge. Christian beugte sich über sie, noch diesen smarten Slip entfernen, dann – ungeahnte Emotionen durchströmten jede noch so winzige Ader seines Körpers. Er riss an dem letzten Hindernis, suchte, was er Tage zuvor schon einmal gefunden hatte. Wie man mit Behelfsmitteln ins Glück einkehren kann, war ihm bekannt. Jetzt stand ihm der Originalschlüssel für die wahre Reise dorthin bereit, den Eingang fand er aber nur gemeinsam mit Lina, der perfekten Reiseleiterin.

 

O ja, Christian, jaaa! Völlig in Ekstase wühlten ihre Hände in seinen Haaren. Seine Instinkthandlungen führten ihn in einen nie gekannten Zustand des Liebesrausches. Sein Gedächtnis war abgeschaltet, denn hätte er nachgedacht, würde er sich über seine scheinbare Geübtheit wundern. Stöhnen mischte sich in den Vogelgesang, deren Akteure sich durch ihre Besucher nicht stören ließen. Sie wurden gar lauter, als beabsichtigten sie, ihr Revier zu verteidigen, bis die zwei Liebenden Ruhe gaben. Christian hatte seine Hose hochgezogen, saß neben Lina im Moos. Sein Hemd lag zum Trocknen in der warmen Sonne. Sie kämpfte indes mit ihrem Slip. Dann hämmerte sie mit ihren Fäusten liebevoll auf seine Brust ein. „Du hast den Gummi zerrissen!“ Dabei lachte sie und hatte trotzdem Tränen in den Augen.

 

Warum weinst du denn, mein Engelchen?“, fragte er. „Den ollen Gummi bekommen wir schon wieder repariert.“

 

Nein, nein, der ist es nicht. Ich habe immer Tränen in den Augen, wenn ich sehr glücklich bin, aber sag doch nicht immer ‚mein Engelchen‘ zu mir.“

 

Okay – hörst du die Singdrossel dort oben in der Baumkrone?“

 

Lina fing wieder an, Christian zu „massakrieren“, dann sagte sie:

 

Du hast nur die Vögel und Engel, eben alles was fliegen kann, im Sinn.“

 

Nein, Lina, ich habe dich ganz bestimmt sehr gern und liebe dich über alles, natürlich noch viel, viel, viel mehr, als die Vögel, aber weißt du auch, dass Angelina ‚Engelchen‘ heißt und dass die Singdrossel abends am schönsten singt?“

 

Jetzt weiß ich es, und wann singst du am schönsten?“

 

Du wirst lachen, auch am Abend und wenn du willst, kannst du dir meinen Gesang am nächsten Sonnabend anhören.“

 

Wirklich? Wo kann ich dich denn hören?“

 

In Beenhofen, dort wohne ich übrigens. Ich muss von meinen Eltern nur noch die Erlaubnis bekommen, bei Bernd in der Band mitzumachen. Ich glaube, sie werden einverstanden sein. Es wäre schön, wenn du dann mit dabei wärst.“

 

Oh ja! Da komme ich gern hin, muss aber meine Schwester zuvor fragen, sie würde dann mit meinem Schwager sicher mitkommen.“

 

Muss das sein?“

 

Klar, warum nicht? Karin ist doch eine ganz Nette.“

 

Na ja, sie hatte mich am Freitag ganz schön erschreckt, aber mit dir mitkommen können sie natürlich.“

 

Christian stand Lina eng gegenüber. Ihre durchschwitzte Bluse ließ die Strukturen ihres Körpers deutlich hervortreten, die sich wie Stempel an seine nackte Brust drückten. Er genoss diese körpernahe Berührung, ihren Schweiß, der nach Liebe schmeckte und sich mit seinem vereinte.

 

Christian, wir beide dürfen uns nie wieder trennen“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „ich würde sterben, wenn ich dich verlieren sollte.“

 

Er nahm ihren Kopf in seine Hände und küsste ihre Stirn.

 

Wir zwei und uns verlieren, das geht gar nicht, dafür habe ich dich viel zu lieb, dann würde ich auch lieber sterben wollen.“

 

Am nächsten Tag kam Christian, wie gewohnt von der Schule nach Hause.

 

Ich habe deine weiße Hose gewaschen“, eröffnete Mutter Liebe das Gespräch mit ihrem Sohn. „Die grünen Flecke an den Knien sind aber nicht rausgegangen.“

 

Ach ja, ich habe dir vergessen zu sagen, dass ich mit dem Fahrrad gestürzt bin und dabei mit dem Rasen Bekanntschaft gemacht habe, es ist aber nichts weiter passiert.“

 

Na, hoffentlich, es wäre noch nicht so gut.“

 

Wie meinst du das?“, fragte Christian verdruckst und sah seine Mutter ungläubig an. Hat sie mich durchschaut?

 

Sie lächelte nur, zwinkerte mit den Augen und sagte:

 

Wir haben so etwas früher anders genannt.“

 

Na ja, ihr hattet früher ja keine Fahrräder.“

 

Aber Liebe gab es auch schon!“, konterte die Mutter.

 

Ich weiß, meinen Vater!“

 

Ha ha, musst du immer das letzte Wort haben? Hau bloß ab!“

 

Ja, ich geh ja schon, habe sowieso noch etwas zu tun.“ Christian lachte. Er war mit der Reaktion seiner Mutter vollauf zufrieden. Das Thema „Liebe“ ließ er außen vor. Erst die Musik in trocknen Tüchern haben, bei Bernd eingestiegen sein, dann hätte ich kein Problem, von Lina zu erzählen.

 

In seinem Zimmer wechselten sich Gitarrenriffs mit Trompetenklängen und dann wieder Gesangspassagen ab. Er spielte ein paar von den Titeln durch, die ihm Bernd gegeben hatte. Bis zum kommenden Sonnabend hatte er mit dem Einüben des Programms Zeit, denn an diesem Tag würde er seine Premiere abgeben, wenn er von den Eltern seine Zustimmung bekäme. Christian war mit seinem Übungspensum eben fertig, da kamen sie wie gerufen zur Tür rein und fragten:

 

Was sind denn das für neue Töne in deinem Zimmer?“

 

Ja, die sind neu, ich habe nämlich ein Angebot von Bernd Hübireit und darf schon am kommenden Sonnabend in seine Bigband als Sänger, Gitarrist und Trompeter einsteigen. Ich wollte euch heute sowieso um eure Genehmigung fragen. Seid ihr einverstanden?“

 

Die Eltern schauten sich fragend an, dann sagte der Vater:

 

Christian, du bist sechzehn und solltest erst mal die Schule beenden, studieren. Dann steht dir das Leben zu Füßen und du kannst selbst deinen Weg finden.“

 

Ich hab es Bernd aber versprochen, bitte.“

 

Nochmals tauschten sich die Eltern fast wortlos aus, dann sagte die Mutter:

 

Ich habe früher auch in einer Kapelle gesungen, war genauso alt, wie du jetzt. Das war eine schöne Zeit für mich. Damals hatte ich übrigens deinen Vater gefunden. Wir werden dir keine Steine in den Weg legen. Wenn du aber bei dem Bernd einsteigst, dann musst du das Blasorchester aufgeben, alles geht nicht. Und eines musst du uns versprechen: kein Alkohol! Keine Zigaretten und – keine Mädchengeschichten! Denke daran, Schule geht vor. Wenn das nicht klappt, kannst du die Musik erst einmal an den Nagel hängen. Okay?“

 

Danke Mama, danke Papa!“ Christian fiel seinen Eltern um den Hals, versprach alles hoch und heilig. Dabei kam ihm Lina in den Sinn. Das mit ihr ist eine handfeste Mädchengeschichte, davon werde ich trotzdem nichts verraten. Die Musik in Bernd seiner Bigband werde ich nicht aufs Spiel setzen.

 

 

 

Eine Woche später schlenderte Christian durch die Straßen von Beenhofen. Um 18 Uhr hatte er das Volkshaus erreicht. Mehrmals trödelte er daran vorbei und immer wieder las er voller Euphorie auf dem Plakat: „Tanz mit Hübis Musikexpress“. Man, da bist du dabei, freute er sich.

 

Ein Schulkumpel rief von der anderen Straßenseite her rüber:

 

Es geht erst um achte los, aber ich darf noch nicht. Darfst du schon?“

 

Muss mal fragen“, schwindelte Christian und sinnierte im Innern: Wenn du wüsstest. Ab 20 Uhr werde ich mein Debüt hier geben. Davor aufbauen, Soundcheck, dann die Ankündigung des ersten Titels, ich werde ihn singen. Alles klar, zigmal probiert.

 

Wieder sprach jemand Christian an, es war Bernd. Er legte väterlich seinen Arm um seine Schulter und fragte:

 

Na, schon aufgeregt?“

 

Ja, schon ein bisschen.“

 

Du wirst sehen, das geht schnell vorbei. Ich kenne da so einen Trick. Komm, wir gehen erst mal rein.“ An der Theke angekommen, grüßte Bernd zur Bühne hoch. Dort hantierten die Kollegen bereits mit der Anlage. Christian bewegte ebenfalls lässig seine Hand und grüßte nach oben.

 

Bernd, zwei Bier?“, fragte die Dame hinter dem Tresen und schäkerte dabei mit ihm. In ihrem Gesicht schien sie einen kompletten Tuschkasten verarbeitet zu haben. Ihr offenherziges Dekolleté fand Christian provozierend. Er wendete sich ab, um nicht verlegen zu werden, zeigte dem aufgedonnerten Weibsbild seinen Rücken und antwortete für seinen Chef. „Nein, danke, ich trinke kein Bier.“

 

Bernd gab Christian freundschaftlich einen kleinen Schubser gegen den Oberarm und orakelte: „Ha, das hat dir deine Mutti eingetrichtert, stimmts?“

 

Ja, nicht rauchen, kein Alkohol und keine Mädchengeschichten, musste ich ihr versprechen.“ Dabei griente Christian. „Ohne dem Versprechen dürfte ich nicht mitspielen.“

 

Bernd lachte schallend:

 

Pass mal auf, Christian. Das mit den Mädels funktioniert schon mal nicht bei dir, das weiß ich. Rauchen – okay, das muss nicht sein. Aber ein Bier kannst du trinken und fünf vor acht trinken wir mit der Band gemeinsam einen Schnaps, einen Doppelten, dann klappt der Anfang auch. Einverstanden?“

 

Und wenn ich dann nicht mehr singen kann?“

 

Desto besser wirst du singen, man darf nur nicht übertreiben. Ich passe schon auf, dass nichts passiert.“ Zur Dame hinter der Theke gewandt sagte er: „Er ist erst sechzehn.“

 

Sie rollte mit ihren schwarz umtünchten Augen und reichte die gefüllten Gläser. Zu der Zeit waren die Kollegen schon mitten im Soundcheck. Bernd stellte nach zweimal ansetzen sein leeres Bierglas ab und legte seine Hand um Christians Rücken. „Komm, wir gehen auch zur Bühne.“ Dann lachte er. „Was hast du? Machst ja solch große Augen!“ Christian setzte sein Bier an und trank geräuschvoll wie eine Kuh Schluck für Schluck, bis sein Glas ebenfalls leer war. Beide schritten durch den Saal bis hoch zu den Musikerkollegen. Hier beschäftigte sich jeder mit sich selbst. Gitarrensaiten wurden nachgezogen, die Bläser probten einen Satz und Christian nahm sein ihm zugewiesenes Sennheiser-Mikrofon schon mal zur Hand und sang probeweise ein Lied an. Augenblicklich verstummten die eben noch durcheinander gespielten Instrumente. Nur der Keyboarder begleitete spontan diesen Gesang, hob dabei kurz seinen Daumen und strahlte über das ganze Gesicht. „Mann, wo hast du denn diese Röhre her?“ Die Damen und Herren vom Personal klatschten Beifall. Einer schloss die Tür auf und setzte sich mit einer Rolle Eintrittskarten davor. Im Nu war der Saal gefüllt.

 

 

 

Mit Herzklopfen und etwas unbeholfenen Bewegungen stand Christian trotz des Schnapstricks um 20 Uhr vor seinem Mikrofon. Er kannte zwar seinen Part genau, es war aber anders, wie damals beim Debüt im Orchester. Da war er einer unter vielen und hier gleich der Frontmann. Er schaute in den proppenvollen Saal. Unweit der Bühne erkannte er Lina. Ein Kusshändchen erreichte ihn, dann war Bernd mit seiner Begrüßung nahezu am Ende und kündigte den ersten Titel an: „Und nun für sie – Christian – mit – ‚Maddalena‘!“

 

Christian wartete auf die drei Saxofontöne, wie zuvor geprobt, dann sang er: „Maddalena, Maddalena, komm mach dein Fenster auf und sag’ mir endlich wann ….“ Am Ende gab es großen Applaus. Christian war bald der „Hahn im Korbe“ und wurde wie ein berühmter Star von seinen im Handumdrehen gewonnenen Fans gefeiert. Mädchenaugen richteten sich zur Bühne. Er bemerkte sie nicht, schaute nur zu Lina, empfing das Strahlen ihrer blauen Augen. Ihre elegante Erscheinung fand er sexy, sie war für ihn die Schönste vom ganzen Saal. In den Tanzpausen saß sie an Christians Tisch und in der großen Pause genoss er mit ihr die Mondscheinnacht. Nicht lange, dann betraten sie wieder den Saal, drängten sich durch die Massen der auf Musik wartenden Fans. Ein Mädchen mit einem Drink in der Hand, deren Haare über ihr pickliges Gesicht fielen, pöbelte Christian an: „Du bist mein Typ.“ Christian amüsierte sich und Lina zerrte an ihm. „Komm bloß weiter.“ Dann steuerten sie ihren Tisch an und verbrachten den Rest der Pause dort.

 

Ich kann dir nur sagen, allererste Sahne“, hörte Christian Bernd sprechen, als er die Bühne betrat. Augenblicklich war das Gespräch verstummt.

 

Mama, Papa, was macht ihr hier?“, fragte er seine Eltern, die mit Hübi im Gespräch vertieft waren.

 

Da staunst du, was? Wir saßen schon ein paar Stunden in der Gaststube, sind stolz auf dich. Aber mit wem bist du denn jetzt gerade reingekommen?“

 

Lina!“, rief Christian zu ihrem Tisch runter, „komm doch mal bitte hoch.“ Er empfing Lina am Bühnenrand. Hand in Hand schlenderten sie den überraschten Eltern entgegen, dann klärte er auf: „Das sind meine Eltern – und das ist Lina, meine Freundin – alles klar?“

 

Dachte ich’s doch“, sagte Mutter Liebe, und ergänzte zu Lina gewandt: „Sehr angenehm.“ Zu Christian sagte sie:

 

Na dann, mein Junge, solltest du immer schön vorsichtig mit dem Fahrrad unterwegs sein.“ Er lachte, ihm fiel sofort seine Notlüge mit dem Fahrradsturz und seine grünen Knie an der weißen Jeans ein. Auch die Eltern hatten Spaß an den Worten, nur Lina schaute als Einzige etwas irritiert in die Runde und lachte erst, als Christian ihr etwas ins Ohr tuschelte. Die Pause war beendet, Christian nahm seine Gitarre zur Hand, seine Eltern und Lina verließen in ein Gespräch vertieft die Bühne.

 

 

 

Lina begleitete Christian zu allen Veranstaltungen. Dann saß sie mit den Frauen der anderen Musiker am Tisch, tanzte und war stolz auf ihren fast prominenten Freund. Wann es nur ging, trafen sich beide. An eisigen Wintertagen blieb er schon mal die halbe Nacht bei ihr und wärmte sie in ihrem Bett. Ihr Zimmer war kalt. Zum Glück hatte Lina von ihren Eltern ein dickes Federbett mitbekommen. Das wärmte sie, doch Geräusche von Matratze und anderswo hielt es nicht ab. Die alten Ohren der Hauswirtin schienen für diese Frequenzen nicht mehr zu taugen. Eines Tages kam sie doch Hals über Kopf die Treppe herauf und versuchte, ihren Schlüssel ins Schloss zu stecken. Sie stieß auf Widerstand und rief erregt:

 

Lina, ist dir etwas passiert? Du hast geschrien!“

 

Christian zog sich die Decke über den Kopf.

 

Ich habe geträumt!“, rief Lina zur Tür, und zu Christian tuschelte sie:

 

Die kann nicht rein, der Schlüssel steckt von innen und ist halb gedreht.“

 

Gut, Lina“, tuschelte Christian zurück, „du kennst dich offensichtlich auch mit den Liebesschlössern aus!“

 

Die Hauswirtin hingegen sagte:

 

Na dann bin ich ja beruhigt“, und trampelte mit schwerem Tritt die knarrende Treppe hinunter. Um zukünftig ungewollte Geräusche bei ihren sexuellen Praktiken zu vermeiden, legten sie die Matratze auf den Fußboden und zogen sich, wenn es so weit war, das Federbett über die Sinnesorgane, die sich nicht im Zaum halten konnten.

 

 

 

Christian war inzwischen achtzehn Jahre alt und hatte sein Abitur in der Tasche. Das Musikstudium stand kurz bevor. Bei Bernd hatte er sich schon abgemeldet. Jede freie Stunde der letzten Ferientage widmete er allein Lina. Sie hatte sich verändert. Ihren stetig an den Tag gelegten Frohsinn ließ sie total vermissen. Irgendetwas schien sie zu bedrücken. Christian machte sich Vorwürfe.

 

Ist es fair, Lina fünf lange Jahre allein zu lassen, oder entscheide ich mich besser gegen dieses Studium und erlerne einen vernünftigen Beruf, so wie es die meisten meiner Bekannten geraten hatten? Sechs Tage in der Woche Schule, da gibt es keine Möglichkeit für einen Wochenendurlaub. Dazu ist die Strecke bis nach Hause deutlich zu lang.

 

Oft hörte er, dass so ein Musikerleben ein Hungerleben sei und außerdem einen unliebsamen Lebenswandel mit sich bringen würde. Aber er hatte sich das Studium in den Kopf gesetzt und eine Musikerkarriere strebte er unbedingt an. Andererseits bedeutete ihm Lina enorm viel, sie aufs Spiel setzen, nein, das schloss er aus.

 

Seine Probleme verschärften sich, als er sie bei seinem nächsten Besuch weinend in ihrem Zimmer antraf.

 

Was ist denn passiert?“

 

Schluchzend sagte sie: „Ich hatte dir doch erzählt, dass meine Regel ausgeblieben war.“

 

Ist doch nicht so schlimm, die wird schon wieder kommen.“

 

Doch, es ist schlimm, ich war schwanger.“

 

Du warst schwanger?“

 

Ja, ich war schwanger und erzählte es meiner Schwester. Ich dachte auch, dass es nicht so schlimm ist, aber Karin hat alles dafür getan, dass wir kein Kind haben werden.“

 

Was hat sie denn getan?“

 

Sie hat mich genötigt, heißen Rotwein zu trinken, auf eine Leiter zu klettern und von oben runter zu springen. Was daraufhin passiert ist, kann ich dir nicht erzählen. Es war so grausam und schlimm.“

 

Christian nahm Lina in die Arme, mit seinem Taschentuch wischte er ihr die Tränen von den Wangen. Nachdem sie sich etwas gefangen hatte, löste sie sich aus seiner Umarmung, wankte zum Schrank und entnahm ihm ein Schraubglas mit einer Flüssigkeit und einem kleinen Embryo darin. Aus dem Weinen wurde mittlerweile ein Wimmern, das ihm fast das Herz zerbarst.

 

Ein Junge, er hat gelebt“, stieß sie stockend aus sich heraus, dabei klammerte sie sich an Christian, der seine Gefühle längst nicht mehr im Griff hatte. Dann sagte sie schluchzend: „Ich will hier nicht weiter bleiben, ich will die hier alle nicht sehen. Ich möchte nach Hause, möchte bei meinen Eltern in Ullersburg sein und du musst mitkommen. Du darfst mich jetzt nicht verlassen, bitte!“

 

Christian kämpfte längst mit seinen Tränen. Lina tat ihm unendlich leid, wie sie vor sich hin weinte. So niedergeschlagen hatte er sie bislang nie erlebt. Er verbarg mit den Händen sein Gesicht, versuchte, klare Gedanken zu fassen und sagte:

 

Lina, in diesem Fall müsste ich mein Studium in den Wind schreiben, das wäre möglich, aber …“

 

Da überfiel sie ihn mit frenetischen Gebärden und Küssen und zeigte sich mit einem Male wie verwandelt, sodass er im Moment nicht in der Lage war, seinen Satz zu beenden.

 

Das Studium müsste ich in den Wind schreiben“, ergänzte Christian. „Das wäre denkbar, aber was mache ich in Ullersburg, wo es keine Möglichkeit der Berufsausbildung gibt, wie du mir erzählt hattest? Ich muss doch Geld verdienen. Und wo soll ich wohnen?“

 

Als Mann wirst du in der Gegend schon eine Arbeit finden und wohnen werden wir gemeinsam bei meinen Eltern, ich habe mit ihnen schon telefoniert.“

 

Gut, wir machen das so. Ich werde nicht studieren, ich komme mit dir mit.“

 

Juhu!“ Lina hing wie ein Klammeraffe an Christian. Ihre Beine baumelten in der Luft, fast hätte sie ihn umgerissen.

 

Wenn wir dann zusammen wohnen wollen, sollten wir auch verlobt sein“, forderte Christian. „Sonst kann ich diesen Schritt meinen Eltern nicht erklären.“

 

Mit einer Flut von Küssen hatte sie ihre Zustimmung zum Ausdruck gebracht.

 

 

 

Es war der 31. August, ein Sonnabend. Christian saß mit Lina bei einer Flasche Wein in der Tanzbar, in der er im Normalfall selber gesungen hätte. „Tanze mit mir in den Morgen“ presste Bernd mit seiner passablen Backgroundstimme heraus. Es war Mitternacht.

 

Du würdest besser singen“, äußerte sich Lina, während sie sich mit Christian zur Tanzfläche begab.

 

Was soll er machen? Er wird schon noch einen Ersatz für mich finden.“

 

Nach der Tour steuerten die zwei die Bühne an, wollten sich bei Bernd verabschieden.

 

Na, vor dem Studium noch schnell verlobt?“, bemerkte Bernd. Er hatte offenbar beim Reichen der Hand die Ringe gesehen.

 

Du, Bernd, das mit dem Studium wird nichts.“

 

Bestens, dann kannst du ja ab morgen meinen Part wieder übernehmen.“

 

Leider geht das nicht, schon Montag ziehen wir nach Ullersburg, das liegt bei Steinersburg. Es wäre zu weit.“

 

Was Frauen so alles bewerkstelligen können“, Wehleid lag in Bernds Stimme.

 

So ist es, aber es geht halt nicht anders. Wir laufen uns bestimmt irgendwann über den Weg.“

 

Eine letzte Umarmung, dann trennten sich die Wege zweier Freunde.

 

 

 

Während der sonntäglichen Kaffeerunde bei den Liebes fielen die Eltern aus allen Wolken, nachdem sie von der Entscheidung ihres Sohnes erfuhren.

 

Dass ihr euch in aller Stille verlobt habt, akzeptieren wir“, sagte die Mutter, „aber dass ihr euch auch noch ohne Erklärung aus dem Staub macht, eher nicht.“

 

Christian fiel die Trennung von den Eltern und überhaupt von zu Hause schwer. Er schluckte und kämpfte mit sich, ein Zurück war nicht mehr möglich.

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 

 

 

Die Stimme des Schaffners war nicht zu überhören: „Steinersburg, Steinersburg, bitte aussteigen, Türen schließen.“

 

Lina schnellte von ihrer Holzbank hoch. Komm, wir müssen aussteigen“, mahnte sie Christian.

 

Hier wohnst du?“, fragte er perplex, holte den Koffer aus dem Gepäcknetz und folgte Lina in Richtung Trittbrett zum Ausstieg. Kaum standen sie auf dem Bahnsteig, da rief der Zugbegleiter schon wieder: „Bitte einsteigen, Türen schließen, Vorsicht an der Bahnsteigkante!“ Der einzige neue Fahrgast war da schon lange eingestiegen.

 

Christian hatte ein ungutes Gefühl, nicht nur wegen seines Hungers und Durstes, auch mit der unmittelbaren Umgebung konnte er sich nicht anfreunden. Der Bahnhof hatte gerade mal zwei Gleise und einen dazwischenliegenden Holzpfad, den der Schaffner als Bahnsteig bezeichnete. Hier stand er nun mit seinem Trompetenkoffer in der Hand neben Lina. Den schweren gemeinsamen Koffer hatte er abgestellt.

 

Eine mit Kopfsteinen gepflasterte schmale Straße führte parallel zum Gleiskörper ins Zentrum der Kleinstadt. Die Häuser in Bahnhofsnähe wirkten nicht sonderlich einladend. Einige waren halb verfallen, als hätten sie keinen Besitzer mehr. Das Unkraut in ihren Gärten ragte beinahe meterhoch in den Himmel. Lina schien Christians Missmut erkannt zu haben und erklärte, dass die Eigentümer dieser Grundstücke in den Westen abgehauen seien.

 

Bei uns haben das auch viele getan“, konterte Christian, „aber im Vergleich zu Verda oder gar Beenhofen erinnerte diese Gegend eher an ein Armenviertel der Dritten Welt. Das Rad der Geschichte scheint hier um Jahrzehnte zurückgedreht.“

 

In der Ferne waren rote Felsen zu sehen.

 

Ein schönes Panorama“, bemerkte Christian und fragte: „Was sind das für Berge?“

 

Auf dem mittleren Berg wohnen wir, das nennt sich dort ‚Gut Ullersburg‘, ist eine kleine Siedlung. Ullersburg direkt liegt von hier gesehen schon vor dem Berg. Wir können jetzt nach Hause laufen oder wir nehmen ein Taxi.“

 

Nach Hause laufen, da übertreibst du wohl ein bisschen. Wie lange läuft man denn diese Strecke?“

 

Drei Stunden!“

 

Drei Stunden, solange?“

 

Ja, es sind zwar nur fünf Kilometer, aber es läuft sich in den Bergen nicht so leicht.“

 

So weit laufen wir jetzt aber nicht mit unserem Koffer, wir nehmen doch lieber ein Taxi.“

 

Einverstanden.“ Lina wies auf eine Gaststätte gegenüber des Bahnhofs hin. „Da gehen wir rein, die haben ein Telefon, und essen können wir dort auch.“

 

So einen Luxus in dieser Einöde hatte Christian nicht erwartet. Beim Eintreten in dieses Wirtshaus trübte sich seine Euphorie. Gleich neben der Eingangstür saßen zwei ältere Männer am ersten der drei vorhandenen Tische. Dem äußeren Anschein nach zu urteilen hatten sie schon längere Zeit ins Glas geschaut. Sie unterhielten sich lauthals über die Schweinezucht. Lina grüßte, worauf einer der beiden aufsprang und mit einem Schnapsglas in der Hand ihr entgegentorkelte. Er umarmte sie, versuchte, ihr sein Getränk an die Lippen zu führen, und lallte: „Lina, mein schönes Kind, ich freue mich, dass du wieder hier bist!“

 

Christian stand fassungslos in der Tür und fand zunächst keine Worte. Er fragte sich nur, wieso quatscht dieser Suffkopf Lina an? Am liebsten hätte er ihn am Kragen gepackt und raus befördert. Er beherrschte sich, sagte aber entschieden:

 

Wenn hier jemand zu Lina ‚mein schönes Kind‘ sagt, dann bin ich das, hast du das verstanden?“

 

Der Alte trat erschrocken zurück und lallte Christian entgegen: „Entschuldijung, Entschuldijung, junger Mann!“

 

Das ist Karle, mein Nachbar“, beschwichtigte Lina ihren Verlobten. „Der trinkt gern mal einen über den Durst, aber sonst ist er ganz okay.“

 

Schon gut, Alter“, sagte Christian, dann setzte er sich gemeinsam mit Lina an den dritten Tisch, auch neben einer Tür, scheinbar der Toilettentür. Es gab zwar kein Hinweisschild dorthin, aber der penetrante Geruch verriet es. Der Wirt kam eilig heran und begrüßte beide mit Handschlag. Christian bestellte:

 

Zweimal Bockwurst mit Brötchen, ein Bier und eine Brause bitte.“

 

Dürfen wir mal telefonieren?“, fragte Lina.

 

Na klar, komm mit!“

 

Der gibt sich ja so, wie der beste Kumpel, taxierte Christian diesen Typen, ihm war diese Kaschemme nicht geheuer.

 

Lina folgte dem Wirt bis hinter die Theke. Von dort aus entfernten sich beide durch eine weitere Tür.

 

Zehn Minuten wartete Christian, dann fragte er den Alten:

 

Karle, wo ist denn hier das Telefon?“

 

In der Küche!“

 

Und wo ist diese Küche?“, bohrte Christian weiter.

 

Geh mal hinter der Theke durch die Tür. Die geht in den Saal. Von dort geht es gleich neben der Theke in die Küche.“

 

Christian hatte die Küchentür gefunden, da kam ihm aber Lina schon mit zwei Tellern und den bestellten Bockwürsten mit Brötchen darauf entgegen.

 

Wolltest du nicht telefonieren, anstatt hier zu servieren?“, polterte er sie an. Jetzt war er fuchsteufelswild. Die Ankunft in seiner neuen Heimat schmeckte ihm überhaupt nicht. Erst diese Umarmung mit dem Alten und eben das gemeinsame Verschwinden mit dem jungen Wirt.

 

Ein Taxi kommt“, sagte Lina. „Es hat ein Weilchen gedauert, bis eine Verbindung zustande kam. Dann war die Wurst schon warm und Dieter hat sie mir gleich in die Hand gedrückt.“

 

Dieter?“, fragte Christian. Seine Mundwinkel zuckten. „Wer ist Dieter?“

 

Wir kennen uns, früher habe ich bei ihm ab und zu mal serviert.“

 

Dann kam dieser Dieter schon mit den Getränken. „Bitteschön, die Herrschaften“, sagte er, stellte die zwei gleichförmigen Gläser mit optisch nicht zu unterscheidendem Inhalt mitten auf den Tisch und zog sich wieder hinter die Theke zurück.

 

Und jetzt tut er so, als kenne er dich nicht.“ Erstmals kam in Christian so was wie Eifersucht auf. „Die Wurst kann man essen“, wechselte er das Thema, „etwas anrüchig, aber vielleicht liegt das am Gestank hier.“ Dann griff er eines der zwei Gläser, kostete und gab es Lina. „Brause.“ Vom anderen Glas nahm er einen Schluck, stellte es aber mit der Bemerkung „wie Pisse, das hat nichts mit Bier zu tun“, wieder zurück. Der Wirt kam, nachdem Christian gewunken hatte, an den Tisch und fragte:

 

Alles in Ordnung?“

 

Zahlen“, sagte Christian bedient, „du solltest die Bierleitung mal reinigen.“

 

Zwanzig Minuten später saß er mit Lina in einem Taxi. Sie fuhren bergauf und bergab, durch Ullersburg, bis hin zu dieser Bergkuppel, die sie schon von Steinersburg aus gesehen hatten.

 

Hier oben wohnst du also.“ Christian musterte die fünf Häuser. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Es waren Winkelbauten mit weißer Fassade, kleinen verwitterten Sprossenfenstern und einem dunklen, mit Biberschwänzen gedeckten Walmdach. Staketenzäune umfriedeten diese Hütten.

 

Das war früher mal eine Gutssiedlung“, erklärte Lina. Vor dem zweiten Haus ließ sie das Taxi halten. In diesem Moment öffnete sich schon die Haustür. Eine kleine pummelige, vielleicht fünfzigjährige Frau eilte ihnen von dort entgegen. Sie hielt eine Kuchenrolle in der Hand. Ihr grau meliertes, streng zurückgekämmtes Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Haarnadeln ließen auch keinem dieser dichten Haare die Chance, herauszufallen. Ihren Kulleraugen entrannen Tränen, die sich über auffällig roten Wangen ihren Weg bahnten. Freudentränen, erkannte Christian, denn dieses Mütterchen umarmte ihre Tochter so innig, dass ihr das mitgeführte, mit Teig verschmierte Küchengerät völlig außer Acht geriet. Am Ende sah es aus, als wäre Lina die Bäckerin. Dann begrüßte die völlig von Glück beseelte Frau Christian mit den Worten: „Herzlich willkommen!“ Sie hatte einen oberschlesischen Akzent und redete ununterbrochen wie ein Wasserfall. „Ich bin gerade beim Kuchenbacken, habe euch gar nicht so zeitig erwartet. Mit dem Taxi seid ihr gekommen? Da muss der junge Mann aber viel Geld haben. Wie heißt er überhaupt?“

 

Christian!“, antwortete Lina.

 

Die Mutter reichte Christian die Hand.

 

Ich bin für dich Mutti, kann dich doch sicher duzen?“

 

Natürlich“, antwortete er.

 

Die drei bewegten sich einen kleinen Anstieg hoch bis zum Haus, währenddessen die Mutter immer noch viel zu erzählen hatte. Im Scheitelpunkt dieses Winkelgebäudes gab es drei Türen. „Die erste Tür mit dem ausgesägten Herz ist die Toilettentür“, erklärte Lina, „die zweite die Hühner- und Schweinestalltür und durch die dritte Tür geradeaus gehen wir jetzt in unsere Wohnung rein.“

 

Wo bin ich denn hier hingeraten, fragte sich Christian. Dieses Haus ist von außen betrachtet nur eine alte Bruchbude, die zumindest einen neuen Fassadenanstrich benötigte. Und dem Dach würde eine Reparatur auch gut tun. Dieser äußerliche Eindruck bestätigte sich ihm beim ersten Schritt durch die Eingangstür. Eine entgegenkommende Hitzewelle stoppte ihn zunächst an dieser Stelle. Er stellte den Koffer und die Trompete ab und stand entgeistert neben Lina. Ein spezieller undefinierbarer Geruch, entwichen aus geöffneten Konservengläsern, Tüten, Tütchen und sonstigen Quellen, stieg Christian sofort in die Nase. Auf dem Küchentisch warteten zwei Kuchenbleche mit Teig, der noch nicht fertig ausgerollt war, daneben Obst, Butter und andere Backzutaten. Das Ofenrohr vom Küchenherd war glühend heiß. Es hatte eine dunkelrote Farbe angenommen.

 

Ich bin mit dem Backen noch gar nicht fertig“, entschuldigte sich die Mutter, „aber in einer Stunde können wir Kaffee trinken, dann ist der Kuchen so weit.“

 

Lass dir ruhig Zeit, Mutti, wir haben gerade erst etwas gegessen.“ Indem die Mutter sich weiter mit dem Backen beschäftigte, musterte Christian das Zimmer, für dessen Bezeichnung er sich nicht im Klaren war. Ist es ein Schlafzimmer oder eine Küche? Außer der Kücheneinrichtung gab es hier ein Ehebett, zwei Nachtschränkchen, eine Frisierkommode und einen Kleiderschrank.

 

Lina, wo soll der Koffer hin?“, fragte er.

 

Schiebe ihn unters Bett, da ist er gut aufgehoben.“ Dann schwärmte sie:

 

Stell dir vor, ab sofort gehört uns zwei die komplette Wohnung, wir schlafen nun in diesem Zimmer hier, und die Küche ist damit auch unsere.“

 

Und deine Eltern, wo schlafen die?“

 

In der Wohnstube, da schläft Papa sowieso schon immer.“

 

Ist die Wohnstube nicht auch unsere?“

 

Lina lachte. „Na klar, du Dummerchen, nachts brauchen wir sie nicht, da schlafen wir doch.“

 

Für Christian war das alles nicht einleuchtend. Habe ich nun mit Lina gemeinsam eine eigene Wohnung oder nicht? Überzeugt hatte ihn dieses Geschenk nicht. Im Grunde war er weder zum Lachen, noch zu Späßen aufgelegt, trotz allem feixte er und fing an zu singen:

 

Ich liebe ein Mädchen und kann sie nicht küssen, die Mutter ist immer dabei. Wir werden fürs Küssen wohl auswandern müssen. Die Mutter ist immer dabei. Ich lieb sie unsäglich, wir sehen uns täglich, doch was nutzt das Sehen, es kann nichts geschehen. Ich möchte seit Tagen dich endlich mal fragen: „Mein Schatz, ist dein Herz für mich frei?“ Doch die Mutter ist immer dabei, doch die Mutter ist immer dabei.

 

Das ist doch das Lied von dem verrückten Chris Howland“, unterbrach die Mutter den Gesang. Ihr Gesicht hatte mit einem Male das Strahlen verloren. „Singen kannst du ja, aber es gibt doch bessere Lieder.“

 

Ja“, sagte Christian, „aber dieses fiel mir gerade ein.“

 

Lina merkte ihrer Mutter die Diskrepanz zu dem Text an und versuchte, die Situation zu retten.

 

Christian wollte dir nur mal seine schöne Stimme vorführen“, erklärte sie, „ und das war ein Lied aus dem Repertoire seiner Band.“

 

Es war ja schön, aber geht doch lieber erst mal zu Papa in die Wohnstube, er wird sich über eure Ankunft auch freuen. Ich werde inzwischen den Kuchen in die Röhre schieben.“

 

In dem Moment rief aus dem Nachbarzimmer schon eine Stimme:

 

Anna, sind unsere Gäste schon da?“

 

Ja, die kommen gleich zu dir rüber.“

 

Lina klopfte an. Ein kräftiges „Ja“ drang durch die Tür. Sie drückte die Klinke des Kastenschlosses nach unten und zog die recht breite, aber extrem niedrig bemessene Tür an sich. Ein von Knoblauch-, Tabak- und Alkoholgeruch geschwängerter Mief kam ihnen entgegen. In geduckter Haltung passierte Christian nach Lina diese archaische Zimmerverbindung. Das angekündigte Wohnzimmer war ein langer, schmaler Raum. Gleich links neben der Eingangstür stand ein gesetzter Kachelofen. Auf einer Liege gegenüber hielt der Vater scheinbar seinen Mittagsschlaf. Aber beim Eintreten von Lina und Christian stand er sofort auf, schaltete das Radio, das auf einem Schränkchen neben der Liege dudelte, aus und kam den beiden entgegen.

 

Lina“, sagte er gerührt, „es ist schön, dass du wieder bei uns bist.“ Dann umarmten sich beide.

 

Papa, musstest du unbedingt primen, wo du uns doch erwartet hast?“, begrüßte Lina ihren Vater. „Hier stinkt es ja, wie im Ziegenstall.“ Sie eilte zum Fenster und öffnete die beiden Flügel.

 

Ach, Lina“, fing er an zu erzählen, „dieser Prim ist, außer mal ein kleines Schnäpschen, mein einziges Laster, ich habe ja sonst nichts mehr. Nun stell mir doch erst einmal deinen Freund vor. Dass er Musiker ist, weiß ich schon. Das macht ihn sympathisch.“

 

Danke“, sagte Christian und übernahm gleich die Antwort, „Christian ist mein Name.“

 

Und ich bin für dich Papa, oder wenn du willst, auch Fritz. Nehmt doch bitte auf der Couch Platz.“ Er wies auf die andere Seite zu einer Sitzgruppe mit Couch und zwei Sesseln.

 

Aus dem Schrank am Ende des Raumes holte er drei Schnapsgläser aus Bleikristall heraus. Der Schliff verriet eine gewisse Qualität. „Nur für gute Gäste!“, hob er hervor. Neben dem Sessel, auf dem er sich niederließ, stand eine angefangene Flasche Korn. Die entkorkte er und goss die Gläser voll, ehe Christian überhaupt eine Chance der Ablehnung hatte. Er versuchte auch gar nicht, diesem Fritz das Getränk abzuschlagen, sondern schwenkte sein Glas ihm prompt entgegen, ließ es klingen. Christian hatte zuvor selten Schnaps getrunken und sich einst geschworen, dies nicht wieder zu tun. In diesem Fall kam er nicht umhin, seinen Schwur zu brechen. Dieser Schwiegervater in spe beeindruckte ihn trotz seines Primgestankes und seiner vernachlässigten Bartpflege derart, dass er ihm schier nichts abschlagen konnte. Sein sicheres Auftreten, seine feste Stimme und seine bestechende Artikulation ließen alle Schwächen verblassen. Selbst diese braune Substanz, die sich an seinen Mundwinkeln durch die langen grauen Bartstoppeln ihren Weg in Richtung Kinn bahnte, änderte daran nichts, im Gegenteil; all das sagte so viel über diesen Charakter, über seinen Seelenzustand aus. Christian schätzte sein Alter auf mindestens siebzig Jahre. Er war hager und von stattlicher Gestalt. Lina hatte große Ähnlichkeit mit ihm, war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.

 

Es blieb nicht bei dem einen Schnaps und es entwickelte sich ein fesselndes Gespräch mit fast nur einem Erzähler. Nur einmal unterbrach Lina: „Papa, das hast du noch nie erzählt.“ Und Papa Fritz erzählte weiter. Er schien glücklich, jemandem seine Geschichten erzählen zu können; Geschehnisse aus seinem Leben, von seiner ersten Frau, dass sie im Krieg umgekommen und die älteste Schwester von Linas Mutter war und von seinem Sohn Winfried aus erster Ehe, der als Siebzehnjähriger schon in der Hitler-Wehrmacht kämpfen musste und dabei seinen rechten Arm verlor.

 

Ja, so war es“, sagte er, eine Träne konnte er nicht unterdrücken. „Nach dem Krieg gab es kaum heiratsfähige Männer, deshalb, Lina, hat deine Mutti mich genommen, ja und den Rest kennst du ja.“

 

Ja“, sagte Lina, „das sind Karin, Fredi und ich bin der letzte Rest.“

 

Genau“, sagte der alte Herr und goss von dem Korn erneut ein. Seine Gastfreundschaft war nicht zu toppen, denn außer diesem Schnaps hatte er zu allem Überfluss noch seinen Primtabak im Angebot. Christian verdrehte die Augen und sagte: „O Gott, nein danke, nur wenn Lina auch primt, nehme ich einen“, in der Hoffnung, dass sie es nicht tut. Und sie tat es. Sie lachte nur noch und war regelrecht happy über die erreichte Konstellation. Die gereichten Schnäpse zeigten bei ihr schon ihre Wirkung. Der Vater fütterte nun seine Gäste mit diesem Kautabak, zuerst Lina. Sie schüttelte sich wie ein junger Hund. Christian erging es nicht anders, doch diesem liebgewonnenen Papa wollte er den Spaß nicht verderben. Die Mischung aus Alkohol und Nikotin hatten ihn in einen Rauschzustand versetzt. Er ergriff seine Trompete und blies einen alten Marsch, von dem er sicher war, dass ihn Fritz kennen würde. Lina klopfte dazu rhythmisch auf den Tisch und der Papa sang: „Lore, Lore, Lore, Lore, schön sind die Mädchen von 70, 80 Jahren“. In dem Moment betrat die Mutti das Wohnzimmer. Ihre Frage, „Kinder, was ist denn hier los?“, ging in diesem Trara völlig unter. Sie servierte ihren frisch gebackenen Kuchen und Kaffee dazu. Die zwischen dem Essen geblasenen Trompetenklänge waren eine willkommene Kuchenergänzung. Nicht lange, bald bastelte Christian an seinem Musikinstrument herum.

 

Die Züge sind zu“, erklärte er.

 

Deine Augen auch“, erwiderte Lina.

 

Christian nickte immer wieder ein, bald fielen ihm die Augen völlig zu. Den Rest des Abends bekam er nicht mehr mit; nicht den gemeinsamen Toilettengang und nicht den Schritt ins frisch gemachte Federbett.

 

Am nächsten Morgen erwachte er und war völlig verwirrt. Wo bin ich überhaupt? Das ist doch nicht mein Bett? Der Kopf schmerzte ihm. Er schaute auf seine Armbanduhr. Die blendende Sonne hinderte ihn, die Zeit zu erkennen. Dann – was war das? Irgendetwas biss ihn unter der Bettdecke und machte ihn vollends munter. Augenblicklich dämmerte es in ihm, die Erinnerungen kehrten zurück.

 

Lina!“, rief er, „irgendetwas beißt mich ungemein, ich habe am ganzen Körper riesige Beulen und es juckt höllisch.“

 

Lina kam in diesem Moment durch die Haustür herein. Sie hielt ein Körbchen mit Eiern darin in der Hand.

 

Das sind Hühnerflöhe“, sagte sie beiläufig, „ich habe auch welche, das ist nicht so schlimm.“

 

Schlimm genug, ich werd ja mit dem Kratzen nicht mehr fertig.“

 

Lina legte die Eier in einen Topf mit kochendem Wasser, befeuerte den Küchenherd mit ein paar Holzscheiten und sprang nochmals zu Christian ins Bett. Nicht allein, denn einen Schwarm von Flöhen brachte sie aus dem Hühnerstall gleich mit, die nun ihren Zirkus sogar auf der Bettdecke vorführten. Imposant hüpften und tanzten sie Christian vor der Nase herum. Anstatt sich mit Lina zu befassen, jagte er nach den Flöhen, ohne Erfolg. Diese Winzlinge gaben ihm mit ihrer lebhaften Fortbewegungsweise keine Chance.

 

Ich krieg euch noch!“, rief er ihnen zu.

 

Aber mich kriegst du nicht!“, gab Lina Paroli.

 

Mit ihrem erotisierenden Flatterhemd hüpfte sie aus dem Bett und drehte in dem Zimmer ihre Runden. Christian verfolgte sie, wie ein Hahn seine Hennen verfolgt, wenn er sie zu treten beabsichtigt. Und wie ein Hahn sein Ziel stets erreicht, so gelang es auch Christian. Seine „Henne“ fiel kapitulierend ins Bett und wurde nicht enttäuscht. Die brodelnden und zischenden Geräusche vom Küchenherd vermischten sich mit denen aus dem Bett. Dort gab sich Lina mit geschlossenen Augen ganz den Wohltaten ihres Lovers hin. All ihre Sinnesorgane hatte sie in diesem Moment abgeschaltet. Im Ausnahmezustand der Erregung gab es für sie nur ein Thema, Liebe.

 

Hörst du das Knacksen aus der Ofenecke?“, fragte Christian.

 

Lina reagierte nicht. Sie klammerte sich unter der Bettdecke an ihn und hatte dabei ihre Richtung verloren. Ihr Mund schien nicht zum Sprechen imstande. Er nutzte den seinen auch nicht mehr für Fragen, deren Antwort ihn jetzt völlig Wurst war. Das Umfeld spielte in diesem Augenblick keine Rolle. Aufgescheuchte winzige Hüpfer rächten sich bald für das Durcheinander unter dem Federbett. Sie bereiteten dem Treiben auf ihre Machart ein Ende, denn mit ihren erregenden Stichen boten sie Christian echte Konkurrenz. In dieser Situation war Lina die Erste, die ihrem Mund wieder Worte entlockte.

 

Nein“, gedachte ich dir vorhin zu antworten, „aber du hast ja dann auch nicht weiter gefragt.“

 

Wie sollte ich denn, wenn ich in diesem Moment viel mehr erfahren hatte, als es jede Antwort bieten kann.“

 

Mist, die Eier sind hart!“, rief Lina abrupt und sprang auf.

 

Was sind die Eier?“

 

Na hart, die sind ausgekocht!“

 

Wie kommst du denn darauf?“

 

Ich habe doch vorhin die Eier angesetzt, die sollten auf den Frühstückstisch.“

 

Ach so, dann bin ich ja beruhigt, ich konnte deiner Eierei nicht wirklich folgen. Jetzt weiß ich aber, was vorhin in der Ofenecke so geknackst hatte.“

 

Lina fing an zu gackern, stolzierte in den Hühnerstall und lachte noch, nachdem sie mit den frischen Eiern von dort zurück war.

 

Du bist ein richtig albernes Huhn“, sagte Christian.

 

Weiß ich doch, ich bin halt glücklich und ein bisschen albern gestrickt bin ich ja eh.“

 

Sie ließen sich die frisch gekochten Frühstückseier schmecken. Draußen hupte ein Auto.

 

Das ist Karl, der nimmt uns freundlicherweise nach Ullersburg mit“, sagte Lina.

 

Und was wollen wir da?“

 

Arbeit für dich finden. Mein Bruder Fredi arbeitet dort im Betonwerk, da werden wir mal nachfragen. Komm, mach hinne, worauf wartest du noch?“

 

Betonwerk? Was soll ich denn da?“

 

Beton machen, was sonst?“

 

Christian folgte Lina nach draußen. Ein PKW parkte vor der Tür. Er öffnete die Beifahrertür und schlug sie gleich wieder zu. Eine Alkoholfahne kam ihm entgegen.

 

Mit dem fahre ich nicht mit, der ist ja immer noch besoffen!“

 

Lina saß bereits auf der Rückbank und rief hinaus:

 

Steig ruhig ein, Karle fährt so am sichersten.“

 

Karle lachte und Christian stieg ein, dann fragte er:

 

Sag mal, Karle, was fährst du denn für ein schneidiges Auto?“

 

Hab ich selbst zusammengebaut, ist halb Opel und halb F9“, beschrieb er stolz wie Oskar dieses für Christian undefinierbare Modell. Der Motor heulte auf und zehn Minuten später entließ der freundliche Fahrer seine zwei Fahrgäste vor dem Betonwerk. Einer Dumperfahrerin begegneten sie.

 

Wir wollen zu Fredi!“, rief Lina ihr zu. „Weißt du, wo er steckt?“

 

Ich schicke ihn raus!“, erwiderte sie im Vorbeifahren, wobei ihre Blickrichtung auf Christian fixiert blieb und der Kopf abzudrehen drohte.

 

Ein großer, stämmiger Kerl kam ihnen mit schwerem Schritt entgegen. Bekleidet war er mit einem scheinbar grauen Arbeitsanzug.

 

Das ist aber auch wieder ein heißer Tag“, stöhnte er und grüßte freundlich. Er öffnete seine Jacke, deren Inneres nicht nur die wahre Farbe des Blaumannes präsentierte, sondern auch einen schweißnassen kugeligen Bauch. „Schön, dass ich mein Schwesterchen auch wieder mal sehe. Und du willst bei uns robotten?“, fragte er Christian. „Wartet mal hier, ich komme gleich wieder.“

 

Im Nu war er mit einem Kollegen zur Stelle und vermittelte:

 

Das ist meine Schwester mit ihrem Freund“ und zu Christian gewandt, „das ist unser Meister, mit dem kannst du alles besprechen.“ Er brachte gerade noch ein kurzes „Tschüs“ über die Lippen, dann verschwand er schnellen Schrittes wieder hinter dem Werktor.

 

Christian schaute ihm verwundert nach, dieweil der Meister erwähnte, dass Fredi sein bester Mann sei, dass er täglich seine 120 Prozent schaffen würde. Danach musterte er Christian von oben bis unten. „Ich glaub, du schaffst das auch“, urteilte er nach einem kurzen Checkup. „Die Arbeit ist schwer, täglich musst du acht Stunden lang Beton schippen, Pausen kommen natürlich hinzu. Nach neun Stunden ist Finito. Du kannst ja erst einmal mit der normalen Schippe anfangen, mit der großen verdienst du aber mehr Geld.“

 

Jeden Tag nur Beton schippen?“ Christian sah Lina fragend an.

 

Klar kannst du das“, sagte sie. „Eine Lehrstelle gibt es hier sowieso nicht und da verdienst du wenigstens etwas Geld. Außerdem sind wir immer zusammen.“

 

Du kannst dir das noch in Ruhe überlegen“, riet der Meister.

 

Täglich eine Stunde bis zur Arbeitsstelle zu Fuß und das Gleiche nach Feierabend retour, dazwischen neun Stunden im Betrieb“, sagte Christian vor sich hin, überlegte kurz, dann sagte er mit fester Stimme: „Ich fange bei euch an!“

 

Der Meister reichte ihm die Hand.

 

Dann bis morgen, eigentlich früh um fünf Uhr, aber du kommst ja vom Gut oben. Sei mal morgen um zehn Uhr hier. Du musst ja auch den Weg noch kennenlernen.“

 

Mit gemischten Gefühlen trottete Christian neben Lina in Richtung Gut Ullersburg.

 

Morgen früh geht es leichter“, versuchte sie ihn bei Laune zu halten. „Da geht es nur bergab.“

 

 

 

Um acht Uhr saß Christian mit seiner neuen Familie am Frühstückstisch. Literaturprofessor Hans Mayer aus Leipzig erklärte im Radio, dass er keine Rückkehr in die DDR beabsichtige.

 

Es wird bald keine Schriftsteller und Musiker mehr bei uns geben“, bemerkte Lina. „Christian, du wirst doch immer bei mir bleiben?“ Dabei schaute sie ihn begehrend an und reichte ihm ein Stullenpaket.

 

Nein“, sagte Christian, und fühlte sofort ihre eher streichelnde Faust in seiner Magengrube platziert. „Nicht immer kann ich bei dir bleiben, zum Beispiel nicht, wenn ich zur Arbeit muss.“ Er stand auf, küsste flüchtig ihre Stirn und verließ, ohne sich nochmals umzudrehen, seine Wohnung.

 

Christian war nicht glücklich mit der Situation und er fragte sich, nachdem er die Haustür hinter sich zugeschlagen hatte: Willst du das alles wirklich, diesen Arbeitsweg, eine Arbeit, die du eigentlich gar nicht verrichten möchtest, die unbefriedigenden Wohnverhältnisse, die Aufgabe des Studiums? Ein paar Schritte bis zur Schotterstraße war er gegangen, dann blieb er stehen, überlegte. Laufe ich die Serpentinenstraße bis Ullersburg runter oder nehme ich den Fußpfad, den Berg hinab, wie es die Einheimischen rieten? Da spart man Zeit, sagten sie und die Landschaft würde für die Strapaze entschädigen. Die haben gut reden, dann müsste der Mond ab morgen 1a-Nächte bescheren. Eine Wahl muss ich treffen. Abgesehen davon – gehe ich überhaupt weiter oder mache ich kehrt? Mit Lina vielleicht in den Westen abhauen, wie Professor Meyer oder geradewegs nach Beenhofen zurückkehren? Nein, das kann ich Lina nicht antun.

 

Christian entschied sich dafür, den Berg hinab zur Arbeit zu stiefeln. Er kannte diese Route ja schon vom Vortag. Allein sog er die Schönheit dieser eigenwilligen Bergwelt intensiv auf; den kahlen, zerklüfteten Berg aus rotem Gestein, die Schluchten mit spärlichem Baum- und Strauchbewuchs, die Bäche, die sich ihren Weg hindurch bahnten. Die hochsommerlichen Temperaturen dieses frühen Herbsttages setzten ihm gehörig zu. Bald mischte sich ein ätzender Betongeruch in die eben noch reine Bergluft und durchflutete seine Atemwege. Das Betonwerk am Ende des Dorfes Ullersburg mit seinem nicht gerade einladenden Flair zeigte sich vor ihm, und welch ein Zufall, auch die Dumperfahrerin, die er am Tag zuvor schon flüchtig kennengelernt hatte.

 

Du bist also unser neuer Kollege?“, fragte sie.

 

Ja.“

 

Und ich bin Anne, Mädchen für alles hier in der Betonbude, auch für die Einkleidung. Junge, du bist ja total nass geschwitzt. Ich weiß, dass du vom Gut oben kommst. Der Weg ist beschwerlich. Ich komme aus Steinersburg, wohne aber hier im Arbeiterwohnheim. Da ist übrigens noch was frei. Kannst du dir überlegen. Ehe du die neuen Arbeitssachen anziehst, darfst du erst einmal duschen – wenn du willst.“

 

Duschen?“, staunte Christian, denn eine Dusche hatte er erst einmal in seinem Leben gesehen. Das war in einem Kinderferienlager. Damals sprang er mit der gesamten Kindergruppe nackt unter einem Duschkopf umher, aus dem warmes Wasser heraus sprudelte. Mädchen und Jungen zusammen.

 

Wo habt ihr hier eine Dusche?“

 

Anne zeigte auf eine abseits stehende Wassertonne, die auf zwei Betonsäulen passgenau eingesetzt war. Daraus führte ein Rohr mit einer aufgesetzten Gießkannentülle nach unten.

 

An der Kette musst du ziehen“, erklärte sie, „dann läuft, wenn du Glück hast, warmes Wasser raus.“

 

Und wo kann ich mich umziehen?“

 

Anne grinste, presste ein „pf“ durch die Lippen und sagte:„Ich werde dir schon nichts abgucken, hab schon ganz andere Männer gesehen.“

 

Hierauf entfernte sie sich mit der Bemerkung:

 

Ich hole mal deine Arbeitsklamotten.“

 

Christian entkleidete sich komplett. Er war ja allein gelassen. Bis Anne mit den Sachen erscheinen würde, gedachte er allemal geduscht und angezogen zu sein. Doch Anne trat schnell wieder in Erscheinung, viel zu schnell für Christian. Sie zeigte keinerlei Regung und agierte, als wäre alles das Normalste der Welt. Für Christian war es das freilich nicht, denn er hüpfte eilig zu seinen Sachen, um sich geschwind die Unterhose überzustreifen. Dabei hielt Anne ihm schon das Arbeitshemd und anschließend die Hose an seinen Körper und sparte nicht mit Berührungen.

 

Es muss ja auch alles passen, oder?“, sagte sie bemutternd.

 

Dabei überstreckte sie ihre Brüste, drehte den Oberkörper um neunzig Grad und schmollte herausfordernd mit ihren vollen Lippen. Schnippisch sagte sie, auf das Tor zur Werkhalle weisend:

 

Dort gehst du rein und meldest dich beim Meister“, schmiss Christian die Arbeitssachen vor die Füße und verschwand.

 

Eigenartiges Weib, urteilte Christian und lief schnurstracks in die Halle bis hin zum Meisterbüro. Dort erhielt er nach einer kurzen Arbeitsschutzeinweisung seine Schippe in normaler Größe, einen Hammer, einen Eimer mit Formöl und einen Pinsel.

 

Das ist alles, was du für deine Arbeit benötigst“, sagte der Meister. „Denken musst du nicht so sehr. Das wirst du doch schaffen?“

 

Klar“, sagte Christian und fragte sich, und dafür habe ich mein Abitur abgelegt?

 

Die zwei schritten in die Halle, in der in vier Reihen die verschiedensten Gießformen aus Holzbohlen von den Kollegen mit Beton befüllt wurden. Hier gab es nur das nachhallende, von den Schippen erzeugte Schürfgeräusch, sonst nichts, keine Unterhaltung. Christian schüttelte den Kopf. Bestreben die hier alle mit ihrem überdimensionierten Arbeitsgerät Millionär zu werden?

 

An einem unbesetzten Platz blieb der Meister vor einem Stapel Bohlen stehen und erklärte:

 

Diese Bohlen musst du zusammenzufügen, mit Formöl innen bestreichen und ein Drahtgeflecht reinlegen. Danach musst du diese fertige Form füllen.“ Dann rief er Fredi heran und sagte: „Zeig ihm, wie das geht.“

 

Überaus Kniffliges hatte Fredi nicht zu zeigen, im Handumdrehen war die Form zusammengebaut und zum Füllen bereit.

 

Mehr nicht?“, fragte Christian.

 

Nö, jetzt musst du nur noch schippen, schippen, schippen, dann kannst du viel Geld verdienen. Aber erst mal musst du Muckis kriegen.“ Dabei winkelte er den rechten Arm an und demonstrierte Christian die Grundlage einer vollen Lohntüte.

 

Anne muss das im Blick gehabt haben, denn sie war, nachdem Fredi gegangen war, sofort mit ihrem Dumper zur Stelle und kippte Beton ab. Dabei sparte sie nicht mit Wimpernschlägen. Christian hatte darauf nicht reagiert. Ihm geisterte Fredis riesiges Muskelpaket im Kopf herum. Er fing auch gleich an, am Aufbau seiner Muskeln zu arbeiten. Zunächst verlief das Schippen zügig, bald bildete sich dann doch die erste Blase am Daumen. Mit dem zweiten größeren ballonförmigen Wassersack in der Innenhand war das Schippen abrupt beendet. „Das ging mir, als ich damals hier angefangen hatte, genau so“, rief ein Kollege von nebenan rüber. „Anne kommt mir gleich neuen Beton bringen, dann kannst du ihr Bescheid geben, sie wird dich verpflastern.“ Christian sah hinüber. Ein kleinerer hagerer Mann hatte nebenan seine Form gerade gefüllt. Er hatte graues Haar, am Rentenalter schien ihm nicht viel zu fehlen. Wenn der das über Jahre geschafft hat, dachte er, werde ich das doch allemal hinkriegen.

 

Danke!“, rief er dem Kollegen zu, dann kam auch schon Anne mit ihrem Dumper angesaust. Direkt vor Christian wendete sie rasant ihr Fahrzeug, sodass ein Teil des Betons über Bord und ihm vor die Füße schwappte. „Pardon!“, rief sie, dann kippte sie den übergroßen Rest der grauen Masse dem freundlichen Kollegen von nebenan auf den vorgesehenen Platz. Der war bereits mit dem Zusammenbau einer neuen Form beschäftigt und wies auf Christian.

 

Anne kam, schaute sich Christians Hand an und griente.

 

Was hast du denn da angestellt? Das wird ja eine größere Operation.“ Mithilfe einer Nadel sorgte sie für vorläufige Entspannung. Die in der Folge aufgepinselte dunkelbraune Substanz entlockte ihm allerdings ein hohes „C“, das er stimmgewaltig herausschrie. Zum Abschluss ihrer Behandlung nahm sie ein größeres Pflaster, legte es in die Innenhand und fixierte dann die Klebeflächen gefühlvoll an die Haut.

 

Du schaffst das schon“, sagte Anne nahezu flehend. „Bitte!“ Sie gab ihm einen Schmatz auf die Wange und stieg wieder auf ihren Dumper. Beim Losfahren drehte sie sich nochmals um, ließ ihren Kopf etwas zur Seite fallen und winkte ihm lächelnd zu. Die langen, schwarzen Haare wehten ihr hinterher. Fredi hatte das beobachtet und rief rüber: „Lass dich nicht mit Anne ein, die ist ein ganz verrücktes Luder und versucht jedem den Kopf zu verdrehen.“

 

Christian hatte ihr Engagement eher als ehrliche Hilfeleistung ohne Hintergedanken aufgefasst, schaute nach diesem Hinweis dem „verrückten Luder“ aber mit anderen Augen hinterher. Bisher hatte er Anne nur als Arbeiterin wahrgenommen. In diesem Augenblick stellte er fest, dass sie mit ihren grünen Augen, den roten Wangen und den schwarzen, langen lockigen Haaren hübsch anzusehen war. Das alles passte zu ihren etwas üppigen Brüsten und den langen Beinen, die nicht enden wollten.

 

Während der Mittagspause saß Christian mit Fredi zusammen.

 

Wieso machst du hier so eine stupide, schwere Arbeit?“, forschte er.

 

Um Geld zu verdienen, was sonst?“

 

Aber die Erfüllung kann das doch nicht sein?“

 

Wenn du etwas Anderes kannst, dann mach es doch.“

 

Ja, ich kann Musik machen, aber ich müsste noch studieren.“

 

Studieren, das ist doch brotlose Kunst“, antwortete Fredi, „dann steig lieber in Steinersburg in eine Kapelle ein. Wir fahren nach Feierabend mit dem Bus gleich mal dorthin, ich glaube, da probt heute eine Band. Da können wir gleich mal auf den zukünftigen Schwager anstoßen.“

 

In Steinersburg am Marktplatz hielt der Bus direkt vor der Gaststätte „Zum Deutschen Haus“.

 

Lautstarke Musik war bis zur Bushaltestelle zu hören.

 

Das klingt nicht berauschend“, urteilte Christian schon draußen. Als er drinnen ein Lied probehalber mitsang, hätte er seine Aufnahme in dieser Band mit Bravour bestanden. Er lehnte ab.

 

Das soll die beste Band der Gegend sein?“, fragte er Fredi beim Bier. „Dann werd ich mich doch irgendwann woanders umsehen müssen.“

 

 

 

Vier Wochen lebte Christian im Haus Nr. 2, Gut Ullersburg. Das Leben hatte sich eingespielt, aber es wurde ihm mit der Zeit zur Qual. In der Woche war er täglich elf Stunden unterwegs. Das Betonschippen und der anstrengende Weg zur und von der Arbeit zehrten an seiner Substanz. Die Musik fehlte ihm obendrein.

 

An einem Freitag kam er bereits um achtzehn Uhr fiebrig und völlig erschöpft von der Spätschicht nach Hause.

 

Wo ist Lina?“, fragte er die Mutter, die in diesem Augenblick aus dem Stall vom Füttern kam.

 

In Steinersburg, der Dieter hat sie abgeholt. Sie soll ihm beim Servieren in seiner Gaststätte helfen.“

 

Der Dieter?“, Christian bekam einen Schüttelfrost. „Sie hat mir ja gar nichts gesagt.“

 

Sie wird es ja vorher auch nicht gewusst haben – warum bist du denn jetzt schon zu Hause?“

 

Bin krank, Halsschmerzen, Fieber“, ich gehe ins Bett.

 

 

 

Im Traum liebte Christian Anne im warmen Beton der Dumperwanne. Er schwebte mit ihr darin, fühlte sich im Moment des Happyends hinabgezogen und schlang seine Arme um ihren Hals, um sich aus der Betonmasse heraus zu retten. Ein Schrei beendete seinen Traum. „Anne!“, rief er, dann sperrte er die Augen auf, löste seine umklammernden Arme und stellte mit Erschrecken fest, dass er nicht Anne, sondern die Mutter Linas in seinen Armen hatte. Einen Lappen spürte er um seinen Hals gewickelt. Neben dem Bett stand Lina mit einem Tontopf in den Händen.

 

Was habt ihr mir um den Hals gebunden? Was habt ihr mir an den Hals geschmiert? Lina, was ist los?“, rief er entsetzt.

 

Christian, du hast Fieber und Halsschmerzen, dagegen hilft Gänseschmalz, das hat dir Mutti gerade an den Hals geschmiert und darum ein Handtuch gewickelt.“

 

Christian sprang aus dem Bett, riss sich das Tuch vom Hals und eilte zur Waschschüssel, um sich von dem widrigen Fett zu befreien. Dann sagte er:

 

Lasst mich mit eurem Zauber in Ruhe.“ Indem ging die Wohnzimmertür auf und der alte Vater schaute durch den Türspalt mit der Bemerkung:

 

Junge, richtig so, lass dich von den Weibern nicht unterkriegen.“

 

Am nächsten Tag kam die Tochter vom Karl vorbei. Sie war Medizinstudentin und wusste mit Christians Krankheit umzugehen.

 

Drei Tage war Christian nun ans Bett gefesselt. Es war ihm langweilig, aber die Hühnerflöhe verschafften etwas Unterhaltung. Sie sorgten auch dafür, dass er ab und zu das Bett verließ, und zwar immer dann, wenn er einen Floh gefangen hatte und in der Blumenvase versenkte. Am Tag der Genesung war der Boden der Vase in einer beachtlichen Höhe mit den zu Wasserflöhen veredelten Tierchen gefüllt.

 

 

 

Für Christian begann der erste Arbeitstag nach der Krankheit mit einer Frühschicht. Um vier Uhr stiefelte er den Berg hinunter. Nieselregen benetzte die schwarze schwere Gummijacke. Auf ihr bildeten sich zunehmend größer werdende Rinnsale, die in der Hose ihre Aufnahme fanden und am Ende die Stiefel zum Auffangbecken werden ließen. Das Felsgestein zeigte sich durch den Niederschlag in einem faszinierenden Dunkelrot. Der Regen ließ es aber auch zur schlüpfrigen und gefährlichen Rutschbahn werden, die Christian hin und wieder von den Beinen holte. Etwas verspätet erreichte er den Betrieb. Wie üblich bestellte er bei Anne Beton. Dass sie sich aber dabei eine Pause gönnte, war nicht alltäglich. Anne schien das Bedürfnis zu haben, sich mit Christian zu unterhalten.

 

Weißt du auch, dass Lina mit anderen kramt?“, fragte sie. „Eines muss man sagen, sie hat ganz schön Schlag und den nutzt sie auch aus. Ich habe sie beim Tanz in Steinersburg beobachtet.“

 

Nein, das weiß ich nicht und das glaube ich auch nicht“, antwortete Christian.

 

Sagt dir Dieter etwas?“

 

Der Kneiper?“

 

Ja.“

 

Ja“, sagte Christian. Ihm fiel sofort Linas Hilfeleistung bei ihm ein.

 

Du bist auch ein Schaf, wenn ich dir mehr erzählen soll, dann kannst du ja nach Feierabend mit zu mir kommen. So, jetzt muss ich weiter.“

 

Anne verschwand mit ihrem Dumper und ließ den verunsicherten Christian mit dem von ihr gereichten Päckchen, das er nicht zu tragen vermochte, zurück. Die gesamte restliche Schicht grübelte er. Gehe ich mit oder nicht, oder stelle ich zuvor Lina zur Rede? Nein, ich gehe mit Anne mit. Lina hat mich ohne Zweifel mit Dieter betrogen.

 

 

 

 

 

3. Kapitel

 

 

 

Fünf Minuten eher, als alle anderen der Schicht traf Christian am Werktor ein, Anne wartete bereits auf ihn.

 

Na? Gehen wir?“, fragte sie, hakte sich bei Christian unter, und schlenderte mit ihm los, bis hin zum Arbeiterwohnheim. Vor der Tür blieben beide stehen.

 

Weiter gehe ich nicht“, sagte Christian. „Erzähle mir alles von Lina, dann gehe ich nach Hause.“ Anne ging aber weiter. Sie setzte all ihr Potenzial ein. Christian, der mit dem Rücken zur Tür stand, nahm ihre Brüste wie Puffer eines Schienenfahrzeuges oberhalb seiner Magengrube wahr. Anne redete auf ihn ein und ließ nichts unversucht, ihn zum Reinkommen zu bewegen. Er konnte sich zwar etwas von der Tür lösen, fand sich aber sofort in der Ausgangsposition wieder. Nachdem er so das zweite Mal nach vorn gewippt war, traf ihr Lippenpaar wie zufällig auf seines. Annes Kopf hatte eine passgenaue Rücklage und sie schien nicht gewillt, dieser zu entkommen. Die versteht ihr Handwerk, stellte Christian fest. Er hielt stille und fand diese neue Erfahrung gar nicht so verkehrt.

 

In der Ferne waren erste Stimmen zu hören. Jetzt versuchte sich Christian, von Annes saugenden Lippen zu lösen, vergeblich. Sie schienen wie fest geschweißt. Ihre Arme, die wie Tentakeln eines Kraken um seinen Hals geschlungen waren, hielten die zwei in einem Verbund zusammen. Erst als die ersten Arbeiter näher kamen, gab sie nach.

 

Jetzt kommen die erst von der Schicht“, sagte sie gelassen. In ihrem Gesicht erkannte Christian ein spitzbübisches Lächeln. Und als sie sagte: „Komm mit rein, wir trinken ein Glas Wein, und dann erzähle ich dir alles“, hatte er absolut nichts mehr dagegen. Er hatte in diesem Moment nur eines im Sinn, nichts wie weg von hier, Fredi darf mich mit Anne zusammen nicht sehen. Oder ist es vielleicht schon zu spät? Anne öffnete die Haustür. Sofort drängte sich Christian an ihr vorbei. Dabei nahm er sie wieder wahr, diese Puffer, fest, begehrenswert und richtungsweisend. Sie wippten durch den langen Flur und er folgte ihnen bis hin in ihr Zimmer.

 

Das ist mein Reich“, sagte Anne, wobei sie ein wenig Stolz erkennen ließ. Es war geschmackvoll eingerichtet. Im Eingangsbereich hatte sie ihre Küchenecke, daneben ein Waschbecken und dann schloss sich auch schon der Wohnbereich an. Ein Tisch, zwei Sessel, Bett, Schrank mit Bücherteil und eine Kommode, darauf ein Radio und ein Plattenspieler, mehr hatte sie nicht. Die Nadel dieses Phonogerätes kratzte in den Rillen einer schon etwas ramponierten Platte. Connie Francis sang „Schöner fremder Mann“, und Anne trällerte mit respektabler Stimme dazu:

 

Schöner fremder Mann, du bist lieb zu mir. Schöner fremder Mann, denn ich träum von dir. Doch am Tag gehst du mit einer anderen Frau vorbei.

 

Sie nahm seine Hand und fragte: „Wollen wir erst tanzen?“

 

Oder?“, fragte Christian zurück.

 

Oder erst einmal etwas essen?“

 

Weder, noch, du hattest doch vorhin Wein angeboten, den könnte ich jetzt gebrauchen. Und dann erzähle mir alles, was du von Lina weißt.“

 

Gut, wie du willst“, sagte sie, ging zum Schrank und holte eine Flasche Rotwein mit zwei Römer Gläsern dazu. Spätburgunder, las Christian. Beim Zuprosten sagte Anne:

 

Schön, dass du mit mir mitgekommen bist.“

 

Er setzte den Römer Schoppen an und trank ihn in einem Zug aus. Der Tag war, nachdem sich der Regen verzogen hatte, schwül-warm geworden und er hatte Durst. Sonst trank er nach der Schicht von den bereitgestellten Getränken eine Flasche aus. Anne hatte ihn aber derart in ihren Bann gezogen, dass er zum Feierabend an das Trinken nicht gedacht hatte.

 

Ich wäre gar nicht hier, wenn du mir nicht das alles erzählt hättest“, gab er zur Antwort und forderte sie auf, endlich die ganze Wahrheit offenzulegen.

 

Na, wie du willst“, sagte sie wieder. „Lilo ist nämlich ein ganz schönes Flittchen. Mit vierzehn Jahren hatte sie schon an jedem Finger einen Freund und als sie bei allen unten durch war, hat sie sich verkrümelt, da war sie verschwunden. Nichts gelernt, zu Hause Polenwirtschaft, na ja, das kennst du jetzt ja auch. Die Eltern stammen nämlich von dort.“

 

Nun ist gut!“, unterbrach Christian, derweil Anne beim Nachschenken des Weines war, „Die Eltern stammen nicht aus Polen, sondern wurden aus Schlesien vertrieben. Sie sind Deutsche, wie wir. Und wenn sie gleich Polen wären, dann würde mich das auch nicht interessieren. Aber was du da noch von dem Dieter und den vielen anderen Beziehungen erzählt hast – stimmt das wirklich?“

 

Ich war nicht dabei, wenn es spannend wurde“, fuhr Anne fort. „Aber das wollte und will ich mir auch gar nicht antun.“

 

Und wieso nennst du sie Lilo?“

 

Warum sie hier Lilo genannt wird, weiß ich auch nicht so genau, vielleicht, weil das besser als Lina zu ihr passt.“

 

Und du? Hattest du noch keinen Verehrer? Du bist bestimmt auch kein Unschuldslamm.“

 

Nein, das bin ich nicht, aber über mich zerreißt sich niemand das Maul.“

 

Christian stellte keine Fragen mehr, ihm reichte das, was er hörte. Gern würde er einen Blick hinter die Kulissen werfen, das Motiv für ihr Handeln erfahren, doch Anne ließ sich nicht in die Karten schauen.

 

Inmitten dieser Stille machte sich Christians Magen mit einem lärmerfüllten, nicht enden wollenden Knurren bemerkbar. Er hatte nach der Schicht nichts gegessen, und der Wein verursachte ein Hungergefühl.

 

Ruhig, Barry“, reagierte Anne darauf, „ich habe verstanden, werde uns jetzt etwas zu Essen machen.“

 

Inzwischen hatte Christian den dritten Schoppen Wein geleert. Er fand ihre Art belustigend; ihren Gag und wie sie zum Bett tänzelte, eine Tagesdecke wie eine Zauberin elegant drauf warf und ein paar bestickte Kissen passgenau gleich in Reih und Glied hinterher.

 

So, hier haben wir es nun bequemer“, sagte sie, „du brauchst nur noch den Tisch ran zu stellen. Die Sessel sind doch etwas niedrig zum Essen.“

 

Christian fand die neue Sitzgelegenheit nicht verkehrt, denn dieses zur Couch umfunktionierte Bett hatte tatsächlich eine passende Höhe zum Tisch.

 

Anne rief von der Küchenzeile rüber: „Ich habe ein paar Scheiben Brot mit Butter und Wurst bestrichenen. Soll ich sie mit Tomaten und Gurken garnieren oder willst du das Gemüse dazu essen?“.

 

Manometer, die macht aber einen Aufriss, dachte Christian anerkennend. „Garnieren! Bitte!“ Auf einer Servierplatte aus feinstem Porzellan hatte sie die Häppchen angerichtet. Dazu stellte sie noch eine Schüssel mit Salzstangen und anderem Knabbergebäck auf den Tisch. Selbst Bier bot sie an. Wie sie ihn umsorgte, faszinierte Christian. Das war doch etwas anderes, als ständig von Linas Mutter beköstigt zu werden.

 

Jetzt wollen wir zwei mal loslegen, lass es dir schmecken“, forderte Anne mit ihrer dunklen Stimme zum Souper auf. Sie zündete eine Kerze an und setzte sich dicht neben Christian. Diese Enge ließ sich nicht vermeiden, weil beide an dem kleinformatigen Tisch einen Platz begehrten. Beim Essen kamen sie sich ständig ins Gehege. Diese vornehmlich von ihr provozierten Berührungen verfehlten nicht ihr Ziel. Christian hatte Mühe, seine sexuelle Erregung zu verbergen. Spätestens jetzt war ihm klar, dass er den Verlockungen dieses weiblichen Wesens, ihrem Liebreiz und der ausgesprochenen Schönheit nur schwer widerstehen würde. Ihm plagten Gewissensbisse, denn Lina hatte er geschworen, zu allen Zeiten treu zu bleiben. Mit aller Macht stemmte er sich gegen das bevorstehende Liebesabenteuer. Er legte seine Hände schützend in den Schoß, nahm eine straffe Sitzhaltung ein und sagte mit versucht fester Stimme:

 

Du hattest doch vorhin Bier angeboten, jetzt würde ich eins trinken.“

 

Anne entschuldigte sich, „das habe ich jetzt ganz vergessen“, und holte zwei Flaschen Radeberger Bier.

 

Würdest du sie bitte öffnen?“

 

Klar!“ Christian hatte keine Mühe, brauchte nicht einmal einen Öffner. Er reichte Anne eine der zwei geöffneten Flaschen und setzte seine an. Beim ersten Schluck verlor sie beachtlich an Fülle, Annes Flasche wurde eher voller. Sie prustete nämlich ihren mit viel Schaum versetzten Schluck samt dem noch im Mund befindlichen letzten Bissen heraus. Diese Speise- und Getränkemischung landete auf der Hose von Christian, und zwar an der Stelle, deren Form sich schon lange verändert hatte. Nun sah es aus, als hätte ein Vulkan seine Lava, samt Gestein aus seiner Krone ergossen. Christian zog sein Taschentuch aus der Tasche und war im Begriff, die Hose zu reinigen, aber Anne holte sich vor Lachen nicht ein.

 

Warum lachst du denn noch?“, fragte er. „Du bist albern.“

 

Das weiß ich“, erwiderte Anne, „aber ich muss eben lachen, weil du dich so zierst. Glaubst du, ich hätte nicht längst die Beule in deiner Hose gesehen? Die Hose ist doch jetzt sowieso dreckig, da kannst du sie doch ausziehen. Ich werde sie waschen und morgen früh ist sie dann sauber und trocken. Außerdem ist es hier ziemlich warm.“

 

Christian gehorchte. Er stand auf, zog sich die Hose aus und setzte sich in Unterhosen auf den Sessel. Peinlich berührt wegen dieses kleinen Missgeschicks nippte er an seiner Bierflasche und rang dabei mit sich. Dann überlegte er. Wenn das alles stimmt, was Anne mir erzählt hat, werde ich mit Lina Schluss machen. Doch wie soll es mit mir weiter gehen? Bleibe ich ab nun bei Anne oder rufe ich ein Taxi und lass mich sofort nach Hause fahren? Ich habe aber meine Trompete und ein paar Kleinigkeiten noch bei Lina abzuholen. Und ohne Hose?

 

Ich habe deine Hose schon gewaschen“, erwähnte Anne so nebenbei, „die hängt dort über dem Küchenstuhl.“ Dann setzte sie sich bei Christian seitlich auf den Schoß. Ihr rechter Arm umfasste seinen Hals und in der linken Hand hielt sie eine Salzstange. Diese steckte sie Christian in den Mund, küsste ihn und eroberte das Gebäck zurück. Christian ließ es fast regungslos geschehen, aber es regte sich doch wieder etwas. Anne tat, als merke sie nichts. Sie erhob sich, ging zum Schrank und sagte:

 

Dreh dich bitte mal um, ich möchte mich umziehen, habe noch die Arbeitsklamotten an.“

 

Christian drehte seinen Drehsessel um 180 Grad und schaute in einen überdimensionierten Spiegel.

 

Wie in einem Erotik-Theater verfolgte er darin Annes Schauspiel, wie sie sich entblößte und dabei ihre Schönheit in ihrer reinsten Form zur Geltung brachte. Diese heißen Kurven, dieser wohlgeformte Körper, überhaupt ihr Sexappeal nagten an seiner Selbstbeherrschung. Nicht minder erotisierend war ihre graziöse Bewegung zum Waschbecken und die gründliche Wäsche all ihrer Körperteile. Im Anschluss zog sie sich vor dem Schrank an, nicht mehr, als einen Minirock und eine lockere Bluse. Die Knöpfe der Bluse ließ sie offen, sodass ihre üppigen Brüste herauszufallen drohten. Mit dem Überstreifen der Sachen war ihre Aufführung in drei Akten beendet.

 

Kannst dich wieder umdrehen!“, rief sie Christian zu und machte es sich auf dem Bett bequem. „Ach, ich hab an den Spiegel gar nicht gedacht, aber du hattest sicher die Augen geschlossen.“

 

Ganz sicher!“, antwortete Christian. Er war vom Wein und dem Bier gehörig beschwipst. Die ihm gebotene Show hatte ihn vollends angemacht.

 

Kannst ruhig zu mir kommen oder hast du jetzt Angst?“

 

Christian verließ seinen Sessel. Na warte, du Biest, dachte er, das Sahnehäubchen des Kuchens werde ich nicht verschmähen. Seine Augen hingen wie gefesselt an Anne. Sie sah in ihrer spärlichen Garderobe verlockend aus und verstand es auch, die Atmosphäre zum Knistern zu bringen. Eine LP mit Jane Birkin und Serge Gainsbourg lag auf dem Plattenteller. „Je t’aime“ war von ihnen dezent zu hören.

 

Es dauerte nicht mehr lange, da lagen die zwei dicht zusammengekuschelt neben-, ja teils ineinander. Es gab ja keine echte Kleidungssperre mehr. Die sich entfaltenden Körperteile fanden ohne ein Dazutun ihren Weg, erst recht, als von der LP das von Jane Birkin gehauchte „Je t’aime“ in ihrem Lied sich ständig wiederholte. Dieses „Je t’aime“ inspirierte die zwei Liebenden dermaßen, dass sie es sich in deutscher Sprache ebenfalls zuflüsterten. Die Liebesgeräusche aus der Konserve hatten bald das Nachsehen, denn die „Livemusik“ erfüllte dominanter werdend Annes Zimmer, bis sie wieder abebbte. Da war die Melodie vom Plattenspieler längst verklungen.

 

Willst du etwas trinken?“, fragte Anne, stand auf und ging zum Tisch. Blitzschnell eilte Christian ihr hinterher, ergriff ihre Oberarme und fand sich mit ihr auf der Tischplatte wieder. „Ich will nichts trinken, habe nur Liebesdurst“, flüsterte er ihr ins Ohr. Als wollte der Tisch beiden nachäffen, ächzte er knarrend im Takt der sich bewegenden Körper, bis er krachend zusammenbrach. Da war es um die beiden aber auch schon wieder geschehen.

 

Christian reichte Anne die Hand und half ihr wieder auf die Füße. Sie schien von seinem Liebessturm überwältigt, hing an ihm, wie eine Klette. Dann löste sie sich.

 

Christian, morgen früh ist die Nacht vorbei.“

 

Erschöpft und wehrlos schlief er bald, seinen Kopf weich in den Brüsten von Anne gebettet, im fremden Bett ein.

 

Am nächsten Morgen öffnete Christian seine Augen. Er sann nach, was war passiert? War der nächtliche Liebesakt ein Traum? Ja, und wo ist Anne? Er schaute auf die Uhr. Klar, sie ist arbeiten und ich liege hier herum. Auf dem Weg zum Waschbecken registrierte er die Spuren der Nacht, die eingeknickten Tischbeine, einen eigenartigen Fleck auf der Sessellehne, und einen Zettel auf der Sitzfläche. Eine Nachricht von Anne? Er las:

 

 

 

Lieber Christian, es war gestern Abend sehr nett mit dir, speziell die Sesselzugabe in der Nacht, danke! Schade, dass heute Sonnabend ist, aber ich brauche ja nur bis Mittag zu arbeiten. Bringe für uns zwei was Schnuckliges zu Essen mit. Dich entschuldige ich beim Meister. Dir ist nicht gut.

 

Bis dann, Deine Anne.

 

 

 

Christian las sich den Zettel wieder und wieder durch. Den Text kannte er lange auswendig, er bereitete ihm Kopfschmerzen, mehr, als er schon hatte. Ein schlechtes Gewissen plagte ihn zusätzlich. Mit einem Schlag machte es „klick“ in seinem Kopf. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Fredi hatte mich definitiv mit Anne vor dem Haus gesehen. Und nun gab sie im Betrieb auch noch bekannt, dass ich bei ihr genächtigt habe. Ich war gewarnt, hätte mich niemals mit ihr einlassen dürfen. Womöglich ist die Geschichte mit Lina frei erfunden. Anne scheint ein ganz durchtriebenes Weibsstück zu sein, sie hat mich total eingewickelt. Oder stimmt das alles und sie meint es ehrlich mit mir? Was mache ich nur?

 

 

 

Christian schrieb auf die Rückseite des Zettels:

 

 

 

Danke für alles. Ich weiß noch nicht, wie es mit mir weiter gehen wird, erst einmal muss ich zu Lina gehen, das Problem klären. Vielleicht sehen wir uns wieder,

 

Christian.

 

 

 

So schwer, wie an diesem Tag, fiel Christian der Weg nach Gut Ullersburg noch nie. Die gesamte Strecke dachte er an die Liebesnacht mit Anne und dann auch wieder an Lina, die er ganz und gar nicht abgeschrieben hatte. Wird sie mich überhaupt nach all dem, was passiert ist, noch gernhaben? Eine Bank am Berghang, auf der er mit Lina so oft gesessen hatte, steuerte er an, nicht nur zum Sitzen. In die Lehne ritzte er mit seinem Taschenmesser „LINA + Christian“ ein. Früher oder später wird sie es lesen, hoffte er. Ob er davon jemals erfahren wird, er wusste es nicht.

 

Lange hatte Christian hier verweilt. Es war zwar nur ein Katzensprung bis zu seinem Ziel, aber das Gespräch mit Lina, wenn es denn eines geben würde, wollte er noch etwas hinauszögern. Erst, als er seine Gedanken geordnet hatte und auf alle Eventualitäten im Innern vorbereitet war, die ihm beim Empfang aus seiner Sicht begegnen könnten, ging er weiter. Wie Heinrich der IV. auf seinem Gang nach Canossa kam er sich vor. Ich stehe am Ende zwar vor keiner Burg, sinnierte er, aber mein Weg fällt mir zweifellos schwerer, als er Heinrich zu seiner Zeit beim Eintreten in die Burg gefallen sein muss.

 

Jetzt kam Christian dem Haus näher, das mit seiner weißen Fassade und dem schwarzen Ziegeldach hinter der roten Bergkuppel malerisch hervorlugte. Alle Details sog er gierig in sich auf; die Tür mit dem ausgesägten Herz, daneben die Stalltür aus roh gezimmerten Brettern, hinter der er die erbarmungslosen Quälgeister, die ihn so oft massakriert hatten, wusste, und dieser Eingang zur Wohnung. Durch den würde er im nächsten Augenblick einen Fuß vor den anderen setzen und jeder Schritt wird ihm schwerfallen. Selbst der Himmel half, dieses Kleinod, welches er vielleicht niemals mehr wiedersehen würde, in Erinnerung zu behalten. Schatten von drohenden Gewitterwolken, hinter denen sich die Sonne versteckte, gaben sich mit dem hellen Schein der Sonne ein Stelldichein. Erste Regentropfen fielen. Christian öffnete zaghaft die Tür und betrat die Stube. Lina saß am Tisch, auf dem ihr Kopf in verschränkten Armen ruhte. Tränen bahnten sich ihren Weg, bis hin auf die Tischplatte. Ein verhaltenes Weinen erfüllte den Raum. Als Christian einen Moment vor ihr verharrte, wandelte sich dieses Weinen in lautes Wimmern und Schluchzen um. Er kannte solche Gemütsverfassungen von ihr, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang, wusste, dass Lina Trost brauchte. Aber konnte ausgerechnet er in dieser Situation ihr diesen Trost geben? Er ging auf Lina zu, setzte sich neben sie und versuchte zu erklären:

 

Lina, ich –“, er streichelte ihre tränennassen Wangen, „ich – hatte etwas mit Anne.“

 

Was hattest du?“

 

Ich will dir alles erklären, du musst mir aber auch einiges erörtern.“

 

Lina stand auf. Sie weinte nicht mehr und schien mit einem Mal sehr gefasst zu sein. Mit verkniffenen Augen sah sie Christian von unten an.

 

Und wie lange treibst du das mit Anne schon?“

 

Es war wirklich nur gestern. Anne hat mir erzählt, dass du mit Dieter kramst, dann ist es passiert. Ich liebe sie überhaupt nicht, ich liebe nur dich.“

 

Du vögelst Anne die ganze Nacht durch und liebst nur mich? Dass ich nicht lache! Das kannst du deiner Großmama erzählen, aber nicht mir! Als du krank warst, hattest du auch im Fieber nach Anne gerufen. Das mit Anne treibst du nämlich schon lange. Raus!“

 

Lina, das ist doch nicht dein Ernst.“

 

Dann passierte etwas, worauf Christian überhaupt nicht vorbereitet war, was er sich in seinen kühnsten Vorstellungen nicht hätte träumen lassen. Er bekam eine schallende Ohrfeige und im selben Moment hörte er nur noch ein Schreien und Kreischen:

 

Raus, raus, du alter Hurenbock! Raus!“. Dabei schubste sie ihn in Richtung Tür. So hatte er Lina bis zu diesem Tag niemals erlebt. Weder diese hysterische Stimme, noch so ein Vokabular kannte er von ihr. Er war geschockt und stand wieder vor der Tür, ratloser als zuvor. Es dauerte auch nur einen Augenblick, dann landete sein Trompetenkoffer, den er immer pfleglich behandelt hatte, neben ihn. Und als zwei Beutel mit seinen Sachen hinterhergeflogen waren, wusste er, dass es nun einen Plan „B“ geben musste. Aber den hatte er nicht. Fritz schaute mit Tränen in den Augen aus dem Fenster.

 

Schade, mein Junge, dass es so gekommen ist. Ich wünsche dir alles Gute.“

 

Wieder saß Christian auf der Bank mit den neu eingeschnitzten Initialen und wusste weder ein noch aus. Lina wollte ihn nicht mehr haben und auf Anne war er wütend. „Anne hat mir alles eingebrockt!“, schrie er in die Berge hinein. Das Echo schien ihm Recht zu geben. „Es bleibt mir aber keine andere Wahl, als zu Anne zurückzugehen“, führte er seine Selbstgespräche fort. Sie erwartet mich nach ihrer Schicht sowieso in ihrer Wohnung, und von dem in der Zwischenzeit Geschehenen weiß sie ja nichts. Nur, dass meine Sachen dann bei ihr sein werden, wird sie wundern.“

 

Christian stand auf und ging zügig in Richtung Ullersburg. Der Regen hatte nachgelassen. Noch einmal genoss er unterwegs die Schönheit dieser Natur, nahm im Innern Abschied von ihr. Viel Zeit blieb ihm nicht, denn Eile war angesagt, wenn er vor Anne in der Wohnung sein wollte. Er hatte es geschafft. Die Tür war noch abgeschlossen und der Schlüssel lag auf dem Türrahmen, seinem angestammten Platz. Die Spuren der Nacht beabsichtigte er unbedingt zu entfernen. Sie widerten ihn an. Die zwei abgeknickten Tischbeine konnte er dann auch schnell wieder in ihre normale Stellung einpassen. Bei Sessel, Tisch und Bett nahm er einen nassen Waschlappen zu Hilfe. Trotz großem mechanischen Aufwands bekam er die Flecken nicht raus. Als Christian mit allem fertig war, kam Anne freudestrahlend zur Tür herein. Und die Freude schien echt zu sein, diese Emotionen, dieses liebevolle An-sich-Drücken während der Begrüßung ließen keine Zweifel offen. Sie packte ihre Einkäufe aus und zauberte in kurzer Zeit aus Schinken, Eiern, Brot und Zwiebeln ein schmackhaftes Essen. „Strammer Max“, sagte sie mit einem Augenzwinkern und kam mit zwei Tellern auf dem Arm in Richtung Tisch.

 

Bett oder Sessel?“, fragte sie.

 

Sessel, es ist besser so.“

 

Christian lobte das Essen, ließ aber zunehmend Abstand walten. Anne hingegen umgarnte ihn buchstäblich mit ihrem Charme. Mal bekam er im Vorbeigehen einen Kuss auf die Stirn, dann fasste sie ihre Liebesbekundungen in betörende Worte, wobei der Glanz ihrer Augen deutlich erkennen ließ, dass sie nicht auf ein Abenteuer aus war, sondern echt um ihn kämpfte.

 

Christian hatte Anne jedoch innerlich bereits abgehakt. Immer deutlicher wurde ihm, dass seine Zukunft nur in Beenhofen liegen kann. Hier in dieser Gegend von Lina, mit Fredi als Kollegen und ohne Musik, konnte er sie sich nicht mehr vorstellen. Als Anne Christians persönliche Sachen erblickte, sprang sie auf und umarmte ihn. „Du bist bei mir eingezogen?“, fragte sie echt ergriffen. „Hast mir ja gar nicht erzählt, dass du heute bei Lina warst und Schluss gemacht hast.“

 

Dann erzählte Christian alles, wie es sich zugetragen hatte. Zum Schluss sagte er: „Anne, du gefällst mir wirklich sehr gut, aber ich bin mit Lina verlobt, liebe sie immer noch über alles und kann deshalb nicht bei dir bleiben.“

 

Nun fing auch noch Anne an zu weinen.

 

Bitte, Christian, bleib bei mir, ich hatte mich in dich bereits verliebt, als wir uns zum ersten Mal sahen. Du kannst ja Lina von mir aus weiter lieben, aber wenn sie dich rausgeschmissen hat, dann ist sie das nicht wirklich wert. Irgendwann wirst du sie auch vergessen.“

 

Anne, du hast vielleicht recht“, versuchte Christian sich zu erklären, „aber ich muss dich trotzdem verlassen. Du solltest mich da auch verstehen. Ich wollte eigentlich, bevor ich hierherkam, Musik studieren, hatte das Studium wegen Lina aufgegeben. Jetzt muss ich irgend einen Beruf erlernen und wenn ich schon nicht Musik studiere, dann will ich wenigstens Musik machen, und zwar in einer guten Band. Hier in der Gegend bekomme ich keine Lehrstelle und mit Musik wird es hier auch nichts. Ich werde wieder zu meinen Eltern ziehen und mein Leben neu ordnen. Wir zwei können uns ja schreiben.“

 

Wann willst du abreisen?“

 

Sofort, ich müsste mal telefonieren.“

 

Ich habe kein Telefon.“

 

Und im Heim? Hier muss doch irgendwo ein Telefon sein.“

 

Ja, der Heimleiter hat eins, aber Privatgespräche dürfen dort nicht geführt werden.“

 

Wo hat der sein Zimmer?“

 

Das ist am anderen Ende des Flurs, komm wir gehen beide dort hin.“

 

Der Heimleiter war ein sehr zugänglicher Typ und als er Annes mit Tränen unterlaufenen Augen sah, hatte er dem Telefonat gleich zugestimmt. „So schlimm?“, fragte er nur.

 

Anne schluchzte, „Hm“, während Christian schon rief: „Bernd, bist du es?“

 

Am Ende des Gespräches wusste auch Anne, dass es nur noch vier gemeinsame Stunden geben wird. Wortlos und mit verhaltenem Schritt schlenderten beide durch den Flur, bis in Annes Zimmer. Immer wieder kullerten ihr unterwegs Tränen aus den Augen.

 

Hör doch endlich auf zu flennen“, reagierte Christian, während er im Zimmer Annes Bücherregal durchsah. Ihm tat Anne leid, er hatte aber auch Skrupel. Habe ich mich auch richtig entschieden? Sollte ich doch bei Anne bleiben, geliebt hatte ich sie ja und vielleicht hätte ich mich auch richtig in sie verliebt – vielleicht.

 

Wer ist denn dieser Bernd?“, interessierte sich Anne auf einmal.

 

Der Chef aus der Band, in der ich früher gesungen habe, der ist verheiratet.“

 

Christian hatte ein Buch mit dem Titel, „Jeden Abend um acht“, gefunden.

 

Krimi?“, fragte er.

 

Nein, Liebe, Eifersucht und so was“, schluchzte Anne. Sie lag bäuchlings auf dem Bett. Ihre Beine ragten in die Höhe. Ab und zu ließ sie ihre Traurigkeit mit einem Seufzer erkennen.

 

Bis zum Eintreffen von Bernd las Christian in dem Buch. Zwischendurch gab er auch mal einen Kommentar ab, wie:

 

Das könntest auch du sein.“ Dann lachte Anne wieder. Aber als Bernd eintraf, kullerten wieder die Tränen und Anne wollte sich nicht sogleich von Christian lösen.

 

Willst du mitkommen?“, fragte Bernd.

 

Ja, nimmst du mich wirklich mit?“

 

Christian wiegelte gleich ab und sagte:

 

Nein, das geht nicht.“

 

Dann fuhren die zwei los. Die erste Frage von Bernd war:

 

Sag mal Christian, das war doch nicht Lina?“

 

Nein, Anne“, sagte Christian.

 

Mann, ist das ein steiler Zahn, aber Lina ist doch auch nicht von schlechten Eltern, oder?“

 

Na ja, die Mutter ausgeklammert, dann hast du schon recht“, scherzte Christian, „aber das erklär ich dir später mal alles, das ist nämlich eine ganz verrückte Geschichte.“

 

Danach gab es im Auto nur das Geräusch des Motors und des Windes, der durch die geöffneten Fenster strömte. Christian döste vor sich hin. Sein Kopf war von den Liebesaffären wie vernagelt und er hatte außerdem keine rechte Lust, sich mit Bernd jetzt darüber zu unterhalten. Bernd fragte auch nicht weiter, er schwieg ebenfalls. Es war schon ungewöhnlich für diesen sonst so redseligen Typen, dass er sich nur mit der Musik aus dem Radio begnügte und dabei nicht einmal mitsang oder zumindest etwas erzählte. Allzu lang hatte er es dann doch nicht ausgehalten.

 

Du, Christian“, fing er an, „ich muss dir etwas sagen.“

 

Schön, wenn du mal etwas erzählst“, antwortete Christian, „ich war nämlich schon fast eingeschlafen.“

 

Es fällt mir schwer, dir das zu sagen“, fuhr Bernd fort. „Deine Stelle in der Band ist neu besetzt. Es tut mir wirklich leid, aber wir mussten handeln, ich konnte ja nicht ahnen, dass du dich von deiner Zuckerpuppe so schnell trennen würdest.“

 

Christian sank wieder in seine Schlafstellung zusammen. Nach einer Weile sagte er:

 

Bernd, das hat mich jetzt zwar fast umgehauen, aber ich kann dich verstehen.“

 

Dann gab es wieder eine ganze Weile nur das Motorgeräusch, den Wind und die Musik aus dem Radio zu hören, bis Christian irgendwann in diese monotone Geräuschkulisse hinein schrie:

 

Bernd, ich gründe eine eigene Band!“

 

Und ich helfe dir dabei“, erwiderte Bernd genauso lautstark und war damit wieder in seinen Redefluss übergegangen. „Sag mal Christian, du wolltest mir doch von Anne erzählen.“

 

Ach ja, mit der war ich vierundzwanzig Stunden zusammen, erlebt hab ich soviel, wie in meinem gesamten Leben zuvor noch nicht. Anne ist wirklich ein einmaliges Exemplar, sie könnte Männer von Format wie Sand am Meer haben. Aber so ist sie nicht. Sie hat um mich die gesamte Zeit in Ullersburg gekämpft, was ich gar nicht geschnallt hatte. Ich schwebte doch mit Lina im siebten Himmel. Durch eine List hatte sie ihr Ziel erreicht, wenn auch nur für einen Tag. Aber dadurch habe ich Lina verloren und nun bin ich wieder zu Hause.“

 

Soll ich dir mal was sagen? Das Mädel hat mich fast umgehauen. Man, ist das ein Superweib. Ich glaube, ich fahre da nochmal hin. Wie heißt die denn überhaupt?“

 

Anne, mehr weiß ich auch nicht.“

 

Und ihre Adresse?“

 

Keine Ahnung, irgendwo in Steinersburg. In der Woche pennt sie im Arbeiterwohnheim in Ullersburg. Willst du sie etwa gegen deine Moni austauschen? Das würde Sinn machen. Wie bist du denn zu Moni überhaupt geraten?“

 

Ein bisschen Spaß, dann das Kind, na ja – dann geheiratet. Wenn dir so was widerfährt; nie heiraten, glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.“ Bernd hatte sich so richtig in Rage geredet.

 

Ja und nun?“

 

Scheidung läuft schon, bin schon wieder auf der Suche nach einer Neuen.“

 

Du wirst schon bald die richtige finden. Brauchst dich nur auf den Tanzsälen umzusehen.“

 

Das gilt für dich auch“, antwortete Bernd, „ich habe allerdings eine viel bessere Idee.“

 

Wenn ich nur auch so eine Idee hätte, mir fällt aber im Moment in der Richtung nichts ein.“

 

Halt die Ohren steif, jetzt schmeiße ich dich erst mal raus, bin hundemüde. Ich nehme an, dass du zu Hause aussteigen willst.“

Ja, danke, tschau!“

 

Leseprobe

Geliebte vom fremden stern

 

 

 

1

 

Paul!“, hörte Müller seine Frau Amanda rufen und war in der irdischen Realität zurück.

 

Bitte nicht jetzt!“, reagierte er genervt. „David ist soeben mit seinem Raumschiff, wie von einem schwarzen Loch verschluckt, einfach spurlos verschwunden und das, ohne vorher ein Zeichen von sich gegeben zu haben. Das ist nicht seine Art.“

 

Während Paul Müller nach dem Raumschiff seines Vaters suchte, erreichten ihn rätselhafte Signale aus den Weiten des Universums und eben der Ruf Amandas. Spätestens in diesem Augenblick wusste er, dass es keine gute Idee war, die Howland-Insel botanisch gestalten zu lassen. Früher gab es hier nichts, keinen Baum, keinen Strauch, keinen Grashalm, nur den 1938 erbauten Amelia-Earhart-Signalturm, der den Namen einer verschollenen Flugpionierin trug. Das hatte Müller auf der darauf angebrachten Tafel nach seinen ersten Schritten auf der Insel gelesen. Dass diese Amelia Earhart zu ihrer Zeit nicht freiwillig hier landete, war ihm damals sofort klar geworden. Trotzdem hatte er eine von den Amerikanern hinterlassene ehemals militärisch genutzte Immobilie zu seinem Domizil gemacht. Dieses ragte neben dem alten Denkmal aus den kargen Sanddünen heraus. Auf diese unwirtliche, am Äquator gelegene Insel, die nicht mal so groß wie Monaco ist, zog es seinerzeit niemanden hin, auch nicht Amanda. Nur Paul Müller fühlte sich hier wohl, konnte seinen wissenschaftlichen Arbeiten weitestgehend ungestört nachgehen. Mehr wollte er auch nicht. Doch damit war es, seitdem die Insel mit Sträuchern, Bäumen und einem englischen Rasen der reinste botanische Garten geworden war, vorbei. Amanda wollte nach der Inselbegrünung auch dieses Inselflair genießen. Natürlich durfte sie bei ihrem Paul wohnen, doch sie fühlte sich hier bald einsam. Versuche der Unterhaltung kamen bei ihm nicht so gut an. Ihre Themen waren nicht die seinen. Das ließ er Amanda deutlich spüren. Einmal sagte sie: „Eine passende Frau für dich muss erst noch gefunden werden. Auf dem Planeten Erde gibt es sie jedenfalls nicht.“ Im Innern fragte er sich, hat sie damit vielleicht recht?

 

Paul“, kreischte Amanda wiederholt, „Fynn hat soeben mit seinem Weltraumboot die Insel verlassen.“

 

Ja ja, ich habe das da draußen schon mitbekommen. Sag mal, Amanda, kannst du mich nicht einmal in Ruhe arbeiten lassen? Ich habe mit meinem Forschungsprogramm zu tun und du störst mich am laufenden Band. Steig doch bitte in deinen Jet, ich würde dich gern nach Berlin zurücksteuern.“

 

Paul, begreifst du nicht? Unser Junge ist weg und du tust so, als wäre nichts geschehen.“

 

Der ist in den Flegeljahren, vielleicht ist er auf dem Weg zu Titan, dort wollen die Jungs doch alle hin, zum Sprungbrett in die Welt. Vielleicht hat er auch eine Freundin dort oder weiß der Himmel, was. Er sieht sicher für sich auf der Erde keine Zukunft mehr und hier auf der Insel schon gar nicht.“

 

Du hast ja recht, aber alle Menschen finden doch auf dem Saturnmond auch nicht Platz. Außerdem soll es dort gefährlich sein. Ich habe Angst um ihn.“

 

Da mach dir mal keine Gedanken, Fynn weiß schon, was er tut. Er ist zweiundzwanzig und wird seinen Weg gehen. Viel mehr Sorgen macht mir Vater David.“

 

Paul, ich halte es bei dir nicht mehr aus. Die Insel lädt zum schönsten Urlaub der Welt ein, aber du glotzt nur in die Sterne, anstatt mit der Familie etwas zu unternehmen. Fynn hat sich schon aus dem Staub gemacht und mir reicht es auch. Ich düse gern nach Berlin zurück, auch wenn mich dort irgendwelche Viren in Empfang nehmen könnten, um mich aufzufressen. Das kann auch nicht schlimmer sein, als mit dir auf der Insel dahin zu vegetieren.“

 

Das musst du auch nicht, Amanda. Aber melde dich bitte in Berlin sofort bei Prof. Georgia Georgi, du weißt schon, die Ärztin und Virologin. Sie wird dich vor dem Virenfraß mit Sicherheit schützen. Ich melde dich bei ihr schon immer an.“

 

Während Paul Amandas Jet von seinem Arbeitsplatz aus dirigierte, entschlüsselte er zunächst den eben aus dem All empfangenen Funkspruch und staunte nicht schlecht, als er las: Meeting of people of the earth. Exchange spaceship. Scenario per identifying a new homeland where the nation can be resettled. Eigenartig, befand er, eine mit Morsezeichen in der auf der Erde üblichen Weltsprache gesendete Nachricht, die mit einem kurzen und einem langen Zeichen, also mit einem „Dit-Da“ unterzeichnet ist. Dieser merkwürdige Schriftzug muss die Unterschrift sein. Und das „Mrs“ davor? Das kann nur Misses bedeuten. Ist Dit-Da eine Frau von einem fremden Sternensystem? Wer zum Kuckuck verbirgt sich hinter diesem Dit-Da? Oder beliebt womöglich irgendwer auf der Erde zu scherzen? Nein, unmöglich, revidierte er sich gleich, in diesen Regionen des Absenders treibt sich kein Mensch der Erde herum. Allmählich begriff Müller, welch eine Sensation sich hinter dem Funkspruch verbürgt. Ein fremdes Raumschiff war in Richtung Erde unterwegs, ja, irgend welche Aliens suchten dringend Kontakt zu den Menschen hier auf der Erde, sie möchten sich sogar bei uns ansiedeln. Und dass sie Menschen der Erde dabei treffen, wie geschrieben stand, ist doch selbstverständlich. Aber was soll der Tausch des Raumschiffs bedeuten? Egal, dachte Müller, das wird sich schon irgendwann aufklären. Auf so eine Nachricht von Außerirdischen wartete er schon jahrelang. Total happy sprang er mit hochreckenden Armen wie ein kleines Kind um seinen Monitortisch herum. Dabei richtete er seine Jubelschreie den ihn umgebenden Monitorwänden entgegen, auf denen er das Weltall originalgetreu vor sich hatte. Mit einer Hand strich er nebenbei über die Tischplatte, bis das Sternbild Centaurus mit den Sternen Alpha Centauri A und B an der Wand gegenüber größer wurde. Abrupt war seine Jubelorgie beendet. Viel zu sehr reizte ihn diese Gegend, vor allem der vier Lichtjahre entfernte Exoplanet Kepler-22r aus diesem Sternbild. Deren gezoomtes Näherkommen stoppte Müller erst, als kuppelartige, gleich geformte Erhebungen darauf rasant größer wurden. Sie glichen immensen Traglufthallen auf der Erde. Es waren seine jahrelangen Studien und gesammelten Erfahrungen, die ihm sagten, dass es sich dabei um kein Naturwunder handelt, sondern dass nur Geschöpfe mit intelligentem Leben fähig sind, so etwas zu errichten. Und dass nur von denen dieser Funkspruch sein konnte, lag auf der Hand. Aber wie weit von der Erde sich diese Aliens jetzt befinden und ob sich mit ihnen die lang ersehnte Hilfe von Außerirdischen anbahnen würde, darüber hatte er keine Kenntnis. Und überhaupt, können Außerirdische unsere Sprache mit all ihren Regeln beherrschen? Dieser Funkspruch war für Müller ein Buch mit sieben Siegeln. Immer wieder versuchte er, einen Kontakt zum Absender der Signale aufzubauen, wollte den Spruch unbedingt beantworten, vergeblich. Das fremde Raumschiff konnte er nicht ausfindig machen und seine gesendeten Sprüche verschwanden wohl in den unendlichen Weiten des Weltraums. Ja und David mit seinem Raumfahrzeug, dem seine Suche ursprünglich galt, war gänzlich untergetaucht, nach fünf Jahren Flug Knall auf Fall von der Bildfläche verschwunden. Faktisch unmöglich. Müller hatte keine Erklärung dafür. Es konnte mit seiner auffälligen roten Markierung auf dem Monitor nicht übersehen werden, selbst wenn es manövrierunfähig wäre. Sollte dieses Weltraumprojekt, wofür mehrere Generationen in Zukunft ihr Leben im Dienste der Wissenschaft zur Verfügung stellen würden, wirklich für die Katz gewesen sein? Waren diese jahrelangen Anstrengungen von tausenden Mitarbeitern umsonst? Hat sich all die Hoffnung auf die Rettung der Welt in Wohlgefallen aufgelöst? Fragen über Fragen taten sich Müller auf, vor allem auch die nach dem körperlichen Wohlergehen der Weltraumenthusiasten. Die Welt ist aus dem Ruder gelaufen, das wusste er allzu gut. Nicht mehr beherrschbare Pandemien ließen die Menschheit fast aussterben. Und hätte Prof. Georgia Georgi nicht noch ein Mittel dagegen gefunden, gäbe es in seiner Heimatstadt Berlin nicht einmal die noch gebliebenen hunderttausend Einwohner. Seuchen, die dem Nutztierbestand keine Chance ließen und Pflanzenschädlinge, die sich weltweit verbreiteten und die Vegetation fast zunichtemachten, ließen die Menschen beinahe zu Frutariern werden. Weder Fleisch, noch ausreichend Obst und Gemüse waren vorhanden, stattdessen standen Hackfleisch aus Zellkulturen und pflanzliche Schnitzel auf dem Speiseplan. Nur gut, dass die Zahl der Weltbevölkerung so drastisch zurückgegangen ist, dachte Müller, sonst hätte man sie nicht mehr ernähren können. Die Rohstoffressourcen waren aufgebraucht und ein auf den Kopf gestelltes unwirtliches Klima machte das Leben auf dem Erdball zur Hölle. Da half auch keine KI mehr. Nicht zuletzt bedrohte die Anti-Group, ein kleines rückschrittliches Land, die Welt mit nuklearen Angriffen, mit dem Ziel, sie zum Kommunismus zu zwingen. Diese Gefahren wurden anfangs von den meisten Menschen nicht ernst genommen und von den Gewinnern des globalen Systems, die ihre Macht und ihren Wohlstand um jeden Preis verteidigten, schlechthin ignoriert. Jetzt, kurz vor zwölf, hat auch der letzte Erdenbürger den Ernst der Lage erkannt.

 

Zwei Möglichkeiten gibt es, simulierte Müller. Flucht in eine neue Welt, die von den Frauen und Männern um David noch gefunden werden sollte, andernfalls das Ende der Menschheit. Oder kann diese Dit-Da die Welt noch retten?

 

Für Müller hatte das Auffinden von David höchste Priorität. Darauf setzte er sein Augenmerk und beobachtete die Galaxien, Sternhaufen und Nebel im Universum, die auf den großen Monitorflächen an den Wänden rund um ihn herum leuchteten und blinkten. Von David gab es aber kein Lebenszeichen mehr. Stattdessen empfing er regelmäßig diese sonderbaren Signale aus dem Weltall. Es war zwar kein Funkspruch mehr dabei, aber diese kurzen und langen Zeichen, dieses Dit-Da, kristallisierte sich in dem Wirrwarr der unzähligen Radiowellen heraus, und das im gleichmäßigen Zeitintervall. Irgendwer war ihm auf den Fersen. Das registrierte er von Tag zu Tag deutlicher. Er fühlte sich nicht allein, auch wenn sich kein irdisches Wesen in seiner Nähe, ja nicht mal auf der Insel befinden konnte. Paul Müller glaubte ohne Zweifel nicht an Gespenster, doch es gab in seinem Umfeld Geräusche, die er nicht zuordnen konnte. Ständig funkte ihm jemand während seiner Weltraumexperimente gezielt in die Quere. Zufall? „Nein, nein, Müller, da liegt etwas in der Luft“, sprach er mit sich selbst. Es schien ihm hier und jetzt, dass irgendwer dringend Kontakt aufnehmen wollte. Hat diese Dit-Da, wenn es sie überhaupt gibt, meine Signale empfangen? Möchte sie in naher Zukunft die Erde ansteuern, wie sie es in ihrem Funkspruch erkennen ließ? Vielleicht sind noch mehrere Sprüche dieser Art im Äther unterwegs und ich kann sie nur nicht mehr finden. Oder steckt etwa die Anti-Group hinter allem? Aber so ein merkwürdiges Verhalten würde sie sicher nicht an den Tag legen. Da wäre eher das Propagieren ihrer unpopulären Weltanschauung aus längst vergangener Zeit denkbar, dies dann jedoch auf anderen Plattformen. Außerdem ist es der Anti-Group unmöglich, in solche Entfernungen zu gelangen. David käme da eher infrage, der ist aber verschwunden und hätte mit Sicherheit auch einen anderen Text verfasst. Müller war ratlos. Diese Dit-Da fesselte ihn derart, dass er nun sogar den Geburtstag seiner Amanda vergessen hatte und damit den geplanten Berlinbesuch.

 

Wie vom Blitz getroffen schoss Paul Müller augenblicklich in voller Länge aus seinem Sessel hoch. Jack Rahman stand in Lebensgröße urplötzlich vor ihm – nein, nicht in natura, sondern nur als Vision.

 

Ich bin es, Jack“, vernahm Paul, der sich vor seiner eigenen Erfindung nun selbst heftig erschrocken hatte und kreidebleich mit zitternden Knien erwiderte:

 

Das sehe ich, Jack. Wie kannst du mich nur so erschrecken?“ Jacks voluminöse Stimme hatte ihn derart geschockt, dass er vor ihm stramm stand, eigentlich ungewöhnlich. Und als er im Hintergrund seine Amanda an einer geschmackvoll gedeckten Kaffeetafel in seinem Wohnzimmer erblickte, fielen ihm all seine Sünden ein – der Geburtstag, der zugesagte Besuch. Er stammelte verdattert ein paar Glückwünsche daher, umarmte seine Frau, die ihm entgegenkam und plumpste wieder in seinen Sessel zurück. Sie stützte ihre Hände in die Hüften, baute sich mit ihrer kleinen zierlichen Figur aufplusternd wie ein Federvieh vor ihm auf und sagte:

 

Mein lieber Paul, deine lieblose Umarmung konntest du dir sparen!“

 

Er, von der ganzen Situation total überwältigt, saß wie ein begossener Pudel vor seiner Frau. Unbeeindruckt dessen ließ sie ihrer Wut weiterhin freien Lauf, machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube.

 

Selbst in meiner wirklichen Nähe in Berlin würdest du mir visionär vorkommen. Ich glaube, auch hier hätte ich nichts gespürt. Eines will ich dir noch sagen, wenn du deine Wissenschaft lieber hast, als mich, dann kündige ich dir bald meine Freundschaft. Ich kann meinen Geburtstag auch mit Jack und Frau allein feiern.“

 

Entschuldige bitte meine Vergesslichkeit, aber ich bin gerade irgendwelchen Außerirdischen auf der Spur, da muss ich unbedingt dran bleiben“, rechtfertigte sich Paul, und zu Rahman gewandt fuhr er fort: „Ich hörte heute schon den ganzen Tag die Zeichen Dit-Da.“

 

Ehe Rahman etwas erwidern konnte, antwortete Amanda schon:

 

Dann kannst du dich ja scheiden lassen und deine komischen Dit-Da-Zeichen heiraten, wenn sie dir wichtiger sind, als ich es bin!“

 

Paul grinste Amanda an, denn er fand es belustigend, wenn sich seine Frau so aufplusterte. Meist fielen sich die beiden dann wieder in die Arme und es war alles vergessen. Und als er sagte, dass er in drei Stunden in Berlin sein würde, war der kleine Disput beseitigt.

 

Müller hatte nicht das geringste Interesse, nach Berlin zu fliegen, aber in diesem Fall fühlte er sich dann doch dazu verpflichtet. Außerdem könnte er ja gleich mit Rahman über seine neuesten Entdeckungen und vor allem über das Verschwinden von David sprechen, was schon weltweit die Runde gemacht hatte.

 

Wie vorausgesagt, betrat Müller drei Stunden später um 19 Uhr mitteleuropäischer Zeit seine Berliner Wohnung. Jack mit Frau waren noch anwesend. In diesem Kreis waren sie früher öfter beisammen, aber es wurde in den letzten Jahren immer seltener. Beste Gourmet-Speisen und Wasser vom Mars halfen nicht, die einst so homogene Runde in gute Laune zu versetzen. Paul war auch gar nicht so richtig bei der Sache und völlig abwesend, denn er hatte überhaupt keine Ruhe. Diese Geburtstagsfeier kam ihm höchst ungelegen und er hatte es bereut, dass er sich wieder mal von seiner Amanda breitschlagen ließ. Gespräche mit Amanda fielen erwartungsgemäß kurz aus und mit Rahman hatte er sich bald ausgetauscht. Gedanklich war er nur bei diesen fremden Funkzeichen und höchst gespannt, wie sich die Annäherungsversuche dieser Aliens entwickeln würden. Deshalb entschuldigte er sich nach zwei Stunden des Beisammenseins mit der Begründung, schnell mal im Berliner Büro vorbeischauen zu müssen. Danach würde er wieder zurückkommen oder gegebenenfalls gleich zur Insel düsen.

 

Kannst du denn nicht wenigstens zu meinem 45. Geburtstag bei mir zu Hause bleiben?“, forderte Amanda. Ihre Stimme wurde dabei traurig, Tränen kullerten aus ihren Augen und sie machte ihrem Mann Vorwürfe:

 

Über Fynn haben wir noch nicht gesprochen und es gäbe auch sonst noch viel Gesprächsbedarf. Aber wenn du es so willst, dann werd doch mit deiner Insel glücklich, einen Anstandsbesuch musst du mir nicht mehr abstatten!“

 

Ach ja, mit Fynn hatte ich kurzen Kontakt, und du?“

 

Ja, Paul, ich habe mit ihm auch gesprochen. Er hat tatsächlich auf Titan eine Freundin, wie du anfangs vermutet hast, und weißt du wie sie heißt?“

 

Das ist mir egal. Wichtig ist, dass er mit ihr glücklich ist.“

 

Dass dir egal ist, wen unser Sohn als Freundin hat, glaube ich nicht, sie heißt nämlich Su Zim.“

 

Su Zim, ja, den Namen habe ich schon mal gehört. Sie müsste die Tochter vom Anti-Group-Diktator sein.“

 

Genau, Zim VI. Seine Tochter ist deine angehende Schwiegertochter.“

 

Amanda, mach dir keine Gedanken darüber, Fynn ist jung, will seine Jugend genießen und Titan ist weit weg. Auf der Erde wird diese Liebesgeschichte kein Thema sein. Wir sollten ihm nicht reinreden.“

 

Und ich habe versucht, Fynn das Mädel auszureden. Das solltest du besser auch tun, denn mit mir spricht er darüber nicht.“ Amanda wandte sich von ihrem Mann ab und redete kein Wort mehr mit ihm. Nur ihr Schluchzen erfüllte den Raum.

 

Funkstille? – Okay Amanda, ich bleibe mit Fynn weiter in Kontakt, jetzt muss ich aber gehen. Wenn dieses rätselhafte Dit-Da aufgeklärt ist, bin ich schnell wieder zu Hause in Berlin.“

 

Jack schien die ganze Sache peinlich zu sein. Er schaute zu Amanda und dann zu Paul, hob seine breiten Schultern und legte dabei seinen Kopf auf deren linke. Müller lachte. Er kannte diese diplomatische Verhaltensweise seines Freundes, der niemandem weh tun wollte. Dass Jack mit seiner Frau nicht das beste Verhältnis hatte, wusste Paul natürlich und die Zuneigung zu Amanda ist ihm auch nicht entgangen. Aber das tat der Freundschaft zu Jack keinen Abbruch.

 

Während sich Amanda, Jack und Frau weiter unterhielten, schraubte sich Paul galant aus seinem Stuhl hoch und schritt zur Tür. Mit einem Ciao verließ er das für ihn unpassenden Intermezzo. Die Stimme Amandas begleitete ihn noch eine Weile. Sie schwärmte von den Flitterwochen mit ihm auf dem Mars. „Damals sah die Welt noch ganz anders aus“, resümierte sie mit trauriger Stimme. „Das war 2095 und liegt nun schon zwanzig Jahre zurück.“ Als sie sich dann abwertend über die Howlandinsel ausließ, schaltete Paul seinen Empfänger ab. Er wollte sich das Geschwafel von Einsamkeit und Langeweile nicht anhören.

 

 

 

Mit seinen fünfzig Lenzen sah sich Paul Müller selbst recht jung, die allgemeine Lebenserwartung von hundertzehn Jahren vor Augen. Dass er vorher von irgendwelchen Viren dahin gerafft würde, schien für ihn auf der Insel ausgeschlossen. Mit zwei Metern Größe und einer sportlichen Figur zog er die Frauenblicke auf sich. Immer wieder versuchten sie, ihn zu umgarnen, er aber hatte nicht einmal für Amanda Zeit. So fiel es ihm nicht schwer, ihr treu zu bleiben, auch wenn es zunehmend Differenzen mit ihr gab. Seine braune Hautfarbe, schwarze lockige Haare, blaue Augen und ein etwas kantiges Gesicht gaben ihm ein sogenanntes neu-europäisches Aussehen. Kein Wunder, denn er hatte Vorfahren aus Zentralafrika, Vorderasien und Deutschland.

 

Während der Studentenzeit waren Amanda und Paul das Traumpaar schlechthin. Sie hatten sich im Laufe der Jahre aber immer mehr auseinandergelebt. Amanda hatte ihren banalen Tagesablauf neu gestaltet, schloss sich einer wieder in Mode gekommenen grünen Partei an und kämpfte in ihr gegen alle anderen politischen Richtungen. Auch das Beten zu einem Gott hatte sie mit Gleichgesinnten neu erfunden. Sie alle wollten die Welt mit Methoden retten, an denen Generationen vor ihnen schon gescheitert waren. Es fehlte an wissenschaftlichem Hintergrundwissen. Da half selbst die grüne Fassade an ihren Häusern nichts und einen Retter vor Seuchen und Epidemien fanden sie im Himmel auch nicht. Müller empfand die gesamte wiederbelebte Parteienlandschaft, genau wie das Anbeten übermenschlicher Wesen, total out, brachte dies doch schon in früheren Zeiten nur Zank und Streit. Für ihn gab es kein Grün, Rot, Rechts oder Links und keinen erdachten Gott, dessen von Menschen gemachte Gebote seinerzeit nur den Reichen dienten und aktuell jeglichen Sinn verloren hatten. Fakten und Wissen zog er Glaubensbekenntnissen vor, unterschied nur zwischen falsch und richtig oder zwischen schlecht und gut. Den geschmacklosen grünen, schwarzen oder roten Hausfassaden konnte er nichts abgewinnen. Auf seiner Insel bedurfte es ohnehin keiner Partei. Hier lebte Müller nur für seine Wissenschaft der Gestirne, dafür fühlte er sich berufen. Und wenn er ein Erfolg versprechendes Objekt im Visier hatte, vergingen Stunden und manchmal sogar die Tage wie im Fluge. Dann vergaß der gute Paul schon mal alles andere um sich herum; Freunde, Termine, ja selbst seine eigene Frau, dann kannte er keine Freunde und Verwandten.

 

Als Leiter der Internationalen Weltraumzentrale (IWZ) nutzte Müller die Howlandinsel für seine Arbeit. Hier, mitten im Pazifik und dicht am Äquator gelegen, konnte er isoliert und geschützt vor lebensbedrohlichen Epidemien und anderen unliebsamen Begegnungen seiner Arbeit nachgehen. Gleich neben seinem Solarhaus stand eine riesige Parabolantenne, sein wichtigstes Arbeitsmittel in puncto Weltraumforschung. Mit tausenden Antennen weltweit verbunden, war sie Teil eines Super-Teleskops. Ein Riesencomputer in der Arktis erfasste alle Daten. Alle Nutzer dieses Super-Teleskops waren in der Lage, scharf gebündeltes Laserlicht konzentriert in den Weltraum zu schicken und Signale aus aller Welt zu empfangen.

 

 

 

Paul Müller begab sich gleich nach der Geburtstagsfeier zu seiner Insel. Er hatte das Gefühl, sich beeilen zu müssen, wollte nicht irgendetwas verpassen. Was genau, wusste er nicht. Diese merkwürdige Frau aus dem All ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Das Dit-Da war auch gleich nach Ankunft in seiner Warte zyklisch zu hören. Er hatte nun schon regelrecht Sehnsucht danach. Wie wird sie aussehen? So wie wir Menschen auf der Erde? Oder hat sie womöglich einen ganz anderen Körper, vielleicht nur ein Sprungbein und sechs Greifarme? Werden diese Aliens friedfertig sein oder gar eine weitere Gefahr für die Menschheit?

 

Die fremden Funksignale empfing Müller regelmäßig weiter, doch auf seine gesendeten Antworten gab es nach wie vor keine Reaktionen. Rahman müsste hier sein, überlegte er. Seine reale Anwesenheit würde schon helfen. Mit ihm würde er jetzt gern fachsimpeln, ja und wenn allen Ernstes außerirdischer Besuch käme, wäre die Anwesenheit eines zweiten Mannes nicht verkehrt. Als wäre es Gedankenübertragung, meldete sich in diesem Moment Jack Rahman.

 

Paul“, begann er, „deine Andeutungen beim letzten Date über den Alienkontakt ließen mir keine Ruhe. Ich hätte mich während der Geburtstagsfeier gern ausführlicher mit dir darüber unterhalten, aber da gab es ja keine Gelegenheit. Amanda führte das Zepter.“

 

Komm doch schnell mal vorbei“, schlug Müller vor, „das wäre am besten.“

 

Dass in absehbarer Zeit irgendwelche Aliens bei dir erscheinen könnten, bezweifelte ich zwar“, antwortete Rahman, „aber ich komme trotzdem. Ich konnte mich schon immer für Märchen begeistern. Vielleicht verbirgt sich hinter diesen mysteriösen Zeichen – wie waren die gleich?“

 

Dit-Da“.

 

Ach ja – eine Traumprinzessin vom anderen Stern.“

 

Dass Rahman die ganze Sache ins Lächerliche zog, nahm Müller ihm nicht übel. Wichtiger war ihm, eine Verstärkung bei sich zu haben, um Eventualitäten besser gewappnet zu sein. Die ganze Sache war ihm zu prekär. Zu zweit ließe sich außerdem alles besser koordinieren. Schlafen, Essen, Fischfang auf dem Meer und viele andere Dinge brauchten nebenbei auch noch ihre Zeit.

 

Drei Stunden später verfolgten die beiden Wissenschaftler gemeinsam das Geschehen im Weltall. Rahman nahm dieses Dit-Da beiläufig wahr, konnte aber im Gegensatz zu Müller keine Annäherung eines Raumschiffes oder irgendwelcher Individuen erkennen. Diese merkwürdigen Zeichen tat er als bedeutungslos und nichtssagend ab.

 

Jack Rahman konnte ohne Erfolgserlebnis aber auch höchst unzufrieden werden, das war Müller bekannt. So überraschte es nicht, dass er bald deprimiert das Verlassen der Insel ankündigte. Er stand auf und bewegte sich in Richtung Ausgang.

 

Einen neuen Stern oder gar Planeten haben wir nicht entdecken können und deine Dit-Da-Signale langweilen mich mittlerweile“, polterte er Müller auf dem Weg dorthin an. „Ich mach mich auf den Weg nach Berlin.“

 

Nun warte doch mal! Ich verstehe deine Unzufriedenheit überhaupt nicht“, sagte Müller. „Die Funksignale, die ursprünglich vermutlich aus dem Sternbild Centaurus kamen, hatten ihren Absender diesmal gar nicht so weit weg, ich denke, nicht mal eine Milliarde Kilometer von der Erde entfernt. Und wenn in den letzten Tagen gehäuft die Zeichen Dit-Da immer noch dabei waren, ist das doch nur positiv zu bewerten. Es muss sich bei unseren Beobachtungen um ein Raumschiff von einem Planeten dieses Sternbildes handeln, dessen Kapitänin wahrscheinlich diese Dit-Da ist. Die Signale waren besonders deutlich und ich habe ein System herausgehört. Außerdem gab es doch diesen mit dem Dit-Da unterzeichneten Funkspruch in unserer Sprache.“

 

Raman ließ sich zur Umkehr bewegen, nahm wieder seinen Platz ein. Dieser hochgewachsene Mann mit seinen etwa 55 Jahren, lümmelte nun scheinbar gelangweilt auf seinem Stuhl. Die Erklärungen seines Chefs schienen an ihm abzuprallen. Seine schlaksige Erscheinung und die überhaupt nicht böse gemeinte poltrige Art wussten nur die engsten Mitarbeiter richtig zu deuten. Wer ihn nicht kannte, vermutete in ihm keinesfalls den bekannten Astrophysiker Prof. Dr. Jack Rahman und schon gar nicht Müllers ersten Mitarbeiter und damit den zweiten Mann auf dem Gebiet der Weltraumforschung.

 

Das glaubst aber nur du“, erwiderte er dann doch. „Diese fremde Zivilisation müsste uns technisch haushoch überlegen sein, um schnell mal so mit Raumschiffen in andere Sonnensysteme zu gelangen. Unser verschwundenes Raumschiff ist schon über fünf Jahre in Richtung Alpha Centauri unterwegs und wird die Erde wahrscheinlich nicht wieder sehen. So ein Risiko würden die, das kannst du mir ruhig glauben, nie eingehen. Und was die fremden Signale betrifft, denke ich eher, dass uns die Anti-Group tatsächlich ärgern will. Die nutzen doch noch das alte Morsealphabet und in den Regionen des von dir vermuteten Raumschiffes treiben die sich mittlerweile auch herum.“

 

Wer ist schon die Anti-Group?“, entgegnete Müller. „Deren Wirtschaft liegt doch total am Boden.“

 

Das stimmt schon. Sie haben zwar nichts zu beißen, aber in der Rüstung und Weltraumforschung haben sie gewaltige Fortschritte gemacht. Außerdem verweisen die doch stets auf einen unbekannten Verbündeten, mit dem sie gemeinsam ihre Ideologie weltweit durchsetzen möchten.“

 

Wer dieser Verbündete auch immer sein mag“, setzte Müller entgegen, „er hätte bald festgestellt, dass ein Bündnis mit dieser Group keinen Sinn ergeben und dass die Einführung ihrer veralteten, unrealistischen Ideologie ein Rückschritt auf der Welt bedeuten würde. Ich glaube eher, dass die Außerirdischen in der Lage sind, in für uns unbekannter Geschwindigkeit durch das Weltall zu rasen. Über eine Technologie, mit der sie uns über Funk erreichen können, werden sie allemal verfügen. Wenn sie sich mit bemannten Raumschiffen fremden Planeten, zum Beispiel der Erde nähern würden, dann wären gezielte Funkbotschaften von diesen Raumschiffen ohne weiteres möglich. Und ich glaube, dass sie ein Ziel verfolgen, nämlich den Besuch der Erde. Jack, düse mal lieber nach Berlin zurück, das kapierst du heute sowieso nicht mehr.“

 

Wenngleich diese Foppereien zum Jargon beider gehörten, war Rahmans schlaksige Haltung gewichen. Müller hatte scheinbar seinen Nerv getroffen. Um eine Antwort, gelegentlich am Thema vorbei, war Rahman aber nie verlegen.

 

Nein, Paul“, sagte er, „jetzt bleibe ich noch einen Moment. Ich kapiere nämlich außerdem nicht, wo du deinen deutschen Namen herhast. Mit Ausnahme deiner blauen Augen sieht doch bei dir nichts wirklich europäisch aus!“

 

Das möchtest du doch nicht wirklich wissen!“, antwortete Müller, „aber jetzt erzähle ich es dir trotzdem. Jack, und jetzt musst du dir das auch anhören. Das ist nämlich eine ganz lustige Geschichte. Du hast schon richtig beobachtet, dass ich nicht so blass wie du bin. Irgendeine meiner Ur-Ur ...-Großmütter stammte nämlich vom afrikanischen Kontinent her. Aber mein Ur-Ur ...-Großvater war ein Bayer. Du hast doch sicher schon von diesem Fußballspiel gehört, das im 20. und bis weit ins 21. Jahrhundert hinein aktuell war. Da rannten 22 sogenannte Fußballer einer luftgefüllten Kugel hinterher und versuchten diese in ein gewisses Tor zu befördern. Dafür bekamen die in den oberen Ligen Spielenden sogar viel Geld, und zwar bis zu fünftausend mal mehr, als ein normaler Arbeiter für seine ehrliche Arbeit.“

 

Nein – unglaublich!“, entfuhr es Rahman spontan.

 

Heute, im Jahr 2115, ist so etwas gar nicht mehr denkbar. Interessant ist, dass mein Urahn aus Bayern auch dabei war. Der soll in der Lage gewesen sein, die Kugel, also diesen Fußball mit fast kosmischer Geschwindigkeit ins Tor zu befördern. Dabei wusste er wahrscheinlich selbst nicht, welche Parabel sein Flugobjekt einschlagen würde und hatte trotzdem fast immer getroffen. Und weißt du, wie er hieß und welche Augenfarbe er hatte?“

 

Rahman fummelte kurz an seinem Viha, dem Visionshandy und hatte sofort die Antwort parat: „Müller!“

 

Donnerwetter Jack; wie hast du denn das so schnell rausbekommen?“

 

Rahman grinste breit, und ließ eine lebensgroße Vision von einem Fußballspieler, namens Müller, aus dem Jahr 2015 aufblitzen. „Die blauen Augen haben es mir verraten. Und wenn wir noch erfahren würden, wie er offensichtlich ohne Berechnung sein Ziel traf, wären wir in unserer Parabelforschung ein Stück weiter. So, jetzt habe ich alles kapiert und kann beruhigt nach Hause fahren“, sagte ein inzwischen zufrieden wirkender Jack Rahman. Wieder versöhnt, begleitete Müller ihn zu seinem Jet, die Abdeckung der Startrampe öffnete sich und im Nu verließ sein Freund die Insel, befand sich schnell zwischen Howland und Berlin.

 

 

 

Müller hatte seinen Arbeitsplatz nicht verlassen. Sein siebter Sinn hatte ihn dazu veranlasst und ließ ihn ausharren und warten auf den großen Lohn seiner jahrelangen Forschungsarbeit. Immer wieder kniff er die müden Augen zusammen, um sie dann wieder blinzelnd zu öffnen. Er war sich sicher, dass die Aliens in Erdnähe sind. Und tatsächlich erkannte er ein blinkendes Etwas im scharfen Kontrast zu den Sternen, Planeten und anderen gewöhnlichen Himmelskörpern auf dem Monitor. Dieses blinkende Objekt war von einem grünen Schleier überlagert. „Ein Ufo!“, rief er wie aus einem Traum heraus. Er riss seine Augen weit auf und erkannte sofort, dass es sich um ein fremdes Raumschiff mit immensem Ausmaß handelte.

 

 

 

Müller war nicht allein mit seiner Überzeugung, dass die Erde von Außerirdischen beobachtet wird. Darin war man sich in Fachkreisen schon einig. Einen direkten Kontakt gab es jedoch nie. Aber es gab Forschungssatelliten in der Umlaufbahn von Alpha Centauri. Das war damals ein Meilenstein in der Weltraumforschung, erinnerte sich Müller, als erstmals Fotos von Exoplaneten von dort die Erde erreichten. Er schrieb damals in seinem Medienbericht:

 

Kepler-22r entdeckt! Auf Planeten von Alpha Centauri muss es intelligentes Leben geben. Gleichmäßig strukturierte Kuppeln, wie von Menschenhand gefertigt, können kein Naturwunder sein. Eine erdähnliche Atmosphäre und empfangene Signale bestärken die Vermutung der Wissenschaft.

 

Eine wahre Goldgräberstimmung herrschte auf dem Erdball. Dieser Planet war auch das Ziel des im All befindlichen Raumschiffes mit Müller Senior als Kapitän an Bord, wenn es denn noch existent wäre. Ist zur Stunde ein Raumschiff von Kepler-22r in Richtung Erde unterwegs und vielleicht gar kurz vor seinem Ziel? Müller sah seine Sternstunde nahen.

 

 

 

Lange hatte Paul Müller nicht mehr geschlafen und er kämpfte ennorm mit der Müdigkeit. Jetzt, wo sich ein langersehnter Traum bald erfüllen könnte, wollte er unbedingt munter bleiben. Er schlürfte einen Kaffee nach dem anderen. Die Augen fielen ihm trotzdem immer wieder zu. In seinem Trancezustand vernahm er verstärkt die fremden, sich wiederholenden Zeichen, -.- . .--. .-.. . .-. / . .-. -.. ., bis er plötzlich hellwach war. Das hieß doch Kepler – Erde. Offenbar bin ich im entscheidenden Moment doch eingenickt, registrierte er entgeistert. Er riss seinen Kopf hoch, lugte auf die Monitorwand und mutmaßte immer noch zu träumen, denn in diesem Augenblick sah er eine scheinbare Feuerkugel am Horizont verschwinden. Sie zog eine kilometerlange grünliche Leuchtspur hinter sich her. Sie muss die Erde bereits umkreist haben. „Mist! Das habe ich verpasst“, fluchte Müller und eilte nach draußen.

 

Es war eine sternklare Nacht, eine Einladung für jeden Sternforscher, sich dieses Schauspiel im Freien anzusehen. Mit seiner Mikroskopenbrille, mit der er nicht nur die nähere Umgebung bei Tag und Nacht klar und deutlich erkennen konnte, hatte Müller die Möglichkeit, weit ins Weltall hineinzuschauen. In Verbindung mit dem weltweiten Teleskopsystem war so die kosmische Wirklichkeit ohne optische Täuschungen heranzuholen. Keine Stunde verging, da tauchte das fremde Raumschiff wieder auf. Der Abstand zur Erde wurde immer geringer. Der Himmel war taghell erleuchtet.

 

Jetzt hatte Müller absolut keine Zweifel mehr. Dieses Raumschiff vom Planeten Kepler-22r wird in den nächsten Minuten auf der Erde wassern oder landen. Er hatte beste Chancen, als Erster vor Ort zu sein, wenn, ja wenn das Ziel dieses Weltraumschiffes die Gegend seiner Insel wäre. Er musste den Außerirdischen schnell eine Funkbotschaft zukommen lassen, anderen zuvorkommen. Die Entfernung war nicht mehr so weit, da könnte sie ihr Ziel erreichen. Seine geliebte private Howlandinsel war nun der Absendeort seiner Botschaft, vielleicht ein gutes Omen?

 

Diese abgelegene Gegend sah Müller als geeignet für eine Wasserung. Hier kannte er sich wie in seiner Westentasche aus. Hier wäre er auch der einzige Mensch der Erde, der einen ersten persönlichen Kontakt mit diesen Aliens aufnehmen könnte. Schnell setzte er den Funkspruch, .... .. . .-. / . .-. -.. . / -.- (hier Erde kommen), mit den angefügten Koordinaten seiner Insel ab. Die Antwort vom Raumschiff, .-- .. .-. / -.- --- -- -- . -. (wir kommen), ließ nicht lange auf sich warten.

 

Jetzt keinen Fehler begehen. Müllers Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Zunächst informierte er Rahman. Der musste sich unbedingt sofort in die Berliner Zentrale begeben, jetzt um fünf Uhr morgens, um die Koordinierung mit den vielen Stationen weltweit zu übernehmen.

 

Rahman, der durch das Rufen seines Namens aus dem besten Schlaf gerissen wurde, staunte nicht schlecht, als er vor sich am Bett Müller stehen sah.

 

Entschuldige die nächtliche Störung, aber du musst dich dringend in die Zentrale begeben“, flüsterte Müller Rahman zu.

 

Rahmans Frau, trotz des Flüstertons wach geworden, reckte sich aus ihren Kissen. Sie schubste ihren Mann, sagte: „Jack, du träumst“, dann erkannte sie aber sofort Müller und schrie laut: „Was macht der denn bei uns?“

 

Rahman erhob sich gemächlich aus seinem Bett und bemerkte beruhigend: „Ist nur visionär, unsere neue Erfindung, es muss irgendetwas Außergewöhnliches passiert sein, sonst würde Paul mitten in der Nacht nicht Alarm schlagen.“ Müller entschuldigte sich bei Frau Rahman und sagte dann: „Wahrhaftig ist etwas Außergewöhnliches passiert. Jack, beeile dich bitte!“ Dann verschwand Müller so schnell, wie er gekommen war, wieder aus dem Schlafgemach.

 

Rahman machte sich kurz frisch, packte eine Tube Schnellfrühstück ein und verabschiedete sich von seiner Frau mit einem flüchtigen Kuss und den Worten: „Es kann lange dauern.“ Er forderte ein Robau an und war kurze Zeit später mit diesem Roboterauto in der Berliner Weltraumzentrale angelangt. Bei seinem Chef auf der fernen Howlandinsel meldete er sich zum Dienstantritt in gewohnter Manier an: „Morgen Paul! Hast du weiter nichts zu tun, als mich zu solch unchristlicher Zeit aus dem Bett zu holen? Anstatt auf der Insel literweise Kaffee zu saufen, solltest du lieber in Berlin deiner Liebsten im Bett Gesellschaft leisten. Sie wird dir eines Tages noch davon laufen. Was gibt es denn so Dringendes, was nicht noch einen halben Tag Zeit hätte?“

 

Müller erklärte kurz das nächtliche Geschehen und verwies dabei auf ein Ereignis aus früheren Zeiten.

 

Du kannst dich sicher noch an unseren Weltraumausflug vor einem Jahr erinnern, als uns ein ungewöhnliches Objekt jenseits von Pluto verfolgte und dann fast streifte. Im Inneren sahen wir durch die teils transparente Außenhülle sich bewegende Wesen. Es verschwand wieder und wir waren uns alle sicher, dass dies ein Raumschiff aus einem fremden Sonnensystem sein musste. Morsezeichen hatten wir auch damals empfangen, ahnten aber nicht, dass der Absender dieses Raumfahrzeug war. Heute weiß ich genau, dass es sich um ein Raumschiff des Planeten Kepler-22r vom Sternbild Centauri handelte. Dieselben Zeichen wie damals waren heute die ganze Nacht hindurch zu hören. In einer Funkbotschaft gaben die Insassen des Raumschiffes zu verstehen, dass sie von Kepler-22r kommen und die Erde anvisieren würden. Ich habe von meinem Sender aus geantwortet. Jack, ich muss mich sofort auf die Ankunft dieser Aliens vorbereiten. Wenn ich mich nicht täusche, werden sie bald in der Nähe der Insel sein.“

 

Das wird ja eine ganz heiße Kiste, Chef. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ziehe aber, bevor du sie empfängst, vorsichtshalber den Schutzanzug an und halte das Sicherheitspaket bereit. Man weiß ja nie!“

 

Rahman nahm zu dieser ungewohnten Stunde seine Arbeit auf, jetzt aber mit anderem Enthusiasmus, wie am Vortag, da hatte er das Ganze als gewöhnliche Weltraumgeräusche oder gar Störmanöver der Anti-Group abgetan.

 

 

 

Müller stieg die breiten glitschigen Betonstufen bis in seine Hafenanlage unter dem Meeresspiegel hinab. Von dort führte sein Weg durch eine Luftschleuse in eine scheinbar überdimensionierte Seifenblase, deren turbulente Wandung ein transparentes Silikonboot einfasste. In diesem Luftblasenboot machte er es sich bequem und rauschte mit samt dieser Blase in hoher Geschwindigkeit aufs Meer hinaus. Auf diese Art war er nicht nur schneller unterwegs, als mit einem Düsenjet, es brachte ihm sonst ebenfalls Vorteile. So war er mit ihm ruck, zuck mal bei Freunden auf den Nachbarinseln, die genau wie er dort Forschungen ihrer Genres betrieben. Jetzt aber beabsichtigte er, seinen zu erwartenden Gästen entgegenzukommen, sich mit dieser Aktion bemerkbar zu machen. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, weder durch Leuchtzeichen, noch per Funk. Im Gegenteil, durch sein auffälliges Verhalten hatte sich das Flugobjekt wieder entfernt, ein Fingerzeig für Müller, das Meer zu verlassen. Er steuerte die Insel an und zog sich in sein Haus zurück. In diesen Minuten hieß es nur, warten, warten, warten. Da gingen Paul Müller schon die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Wie werden die Fremden auf mein menschliches Dasein reagieren? Er erinnerte sich dabei an seinen Großvater, der ihm früher von den Problemen erzählte, die es beim Zusammentreffen divergierender Völker gab. Großvater hatte sich mit der Herkunft und den Verwandtschaftsverhältnissen, mit den Familien und Sippen seiner Vorfahren befasst. Er hatte sogar darüber ein Buch mit dem Titel, „Die Geschichte meiner Vorfahren“, geschrieben. Dieses Buch nahm sich Müller nun zur Hand. Er hatte ja Zeit, denn das Raumschiff ließ auf sich warten. Als Erstes sah er sich darin den Stammbaum seiner Familie an. Auf den vielen Fotos erkannte er Menschen von unterschiedlicher Gestalt und Hautfarbe. Er schaute in den Spiegel und stellte fest, dass die Evolution gewaltig am Werke war. Ja, es hatte sich in den Zeitepochen vor ihm eine Menge getan. Jetzt, wo sich die Konfrontation mit den Außerirdischen anbahnte, schenkte er diesen aufgeschriebenen Fakten seines Großvaters enorme Beachtung. Die Zeit des 21. Jahrhunderts, in der es Konflikte zwischen den unterschiedlichsten Ethnien gab, inspirierte ihn in erster Linie, in diesem Abschnitt las er:

 

 

 

Während der letzten großen Völkerwanderung Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelte sich Europa zu einem Vielvölkerstaat. Auf Europa schwappte eine riesige Flüchtlingswelle zu, das waren vorwiegend Menschen aus Asien, und vom afrikanischen Kontinent. In ihren Heimatländern herrschten aus politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Gründen oft heftige Kriege, die dort Tod und Armut brachten. Afrika und der Nahe Osten wurden großflächig zerstört. Die Menschen sehnten sich nach einem besseren Leben und suchten Zuflucht, meist in Europa. Auch in meinem Stammbaum sind Menschen aus diesen Regionen angesiedelt. Dieser Flüchtlingsstrom war weder durch Verhandlungen, noch durch Grenzschließungen zu stoppen. 2060 stammten bereits siebzig Prozent der europäischen Bevölkerung aus Afrikanern und Asiaten. Diese Menschen waren meist Muslime. Europa war überbevölkert. Die ehemaligen Heimatländer der Flüchtlinge blieben dagegen bald verwaist.

 

Müller legte das Buch auf den Tisch und überlegte: Sind diese Aliens nicht genau solche Flüchtlinge, die die Erde irgendwann überschwemmen könnten? Dann las er weiter:

 

Islamistisch-terroristische Gruppierungen planten, unter dem Deckmantel des Begriffs „Dschihad“ das Gebiet des Islam mit ihrem militärischen und propagandistischen Kampf auf der ganzen Welt auszuweiten. Sie waren der Meinung, dass ihr Glaube der einzig richtige wäre. So forderten sie, dass in jedem muslimischen Land, nach ihrer Meinung auch in Europa, ein islamischer Gottesstaat errichtet werden solle. Die Gesetze des Islam, wie sie im Koran aufgeschrieben waren, sollten auf der gesamten Welt durchgesetzt werden. Inhalte daraus, wie,

 

  • Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden,

  • Gottes Fluch kommt über die Ungläubigen,

  • bei den Ungläubigen ist es, wie wenn man Vieh anschreit, das nur Zu- und Anruf hört, taub, stumm und blind, und sie haben keinen Verstand. u.a.m.

 

Gottes Barmherzigkeit erstreckt sich im Koran ausschließlich auf die Gläubigen, also nicht auf Juden, Christen oder Atheisten.

 

Jetzt klappte Müller das Buch heftig zu. Das habe ich überhaupt noch nicht bedacht, überlegte er. Von welchen Ritualen, welchem Glaube oder sonst einen Hokuspokus lassen sich diese Fremden leiten? Rahman hat recht, wenn er auf den Schutzanzug und das Sicherheitspaket hinweist. Wer weiß, wie diese Aliens ticken. Ein Zurück ist aber nicht mehr möglich. Er schlug das Buch wieder auf und las gespannt weiter:

 

Um dieser gefährlichen weltweiten Entwicklung entgegenzutreten, wurde 2060 eine Weltkonferenz einberufen, bei der folgende Punkte festgelegt wurden:

 

  • Die Welt strukturiert sich neu. Es gibt nur noch eine Weltmacht, bestehend aus: Asien, Afrika, Nordamerika, Südamerika, Antarktis, Europa, Australien und Ozeanien, deren Länder auf allen Gebieten im Bündnis zusammenarbeiten.

  • Staat und Religion werden weltweit strikt getrennt. Rituale der verschiedensten Glaubensrichtungen dürfen in der Öffentlichkeit nicht vorgeführt werden, sondern nur in den dafür vorgesehenen Einrichtungen. Anfeindungen oder Vormachtstellungen unter den Gläubigen sollen damit unterbunden werden, mit dem Ziel einer einheitlichen Glaubensrichtung.

  • Russland stellt auf seinem Territorium ein durch Milizen bewachtes Gebiet zur Verfügung, in dem Terroristen und andere Kriminelle untergebracht werden. Ihren Unterhalt müssen diese Straftäter selbst erarbeiten. Eine gut ausgerüstete Weltmiliz beginnt sofort mit der Einleitung erforderlicher Maßnahmen.

  • Neben den bereits bestehenden muslimischen Ländern wird ein ausreichend großes Gebiet im Nahen Osten für heimatlose Muslime, die sich in andere Kulturen nicht einordnen möchten oder können, zur Verfügung gestellt.

  • Es ist eine Verpflichtung für jedermann, sich in jedem Land der Welt an die dort gültigen Gesetze, Anordnungen und Sitten zu halten. Menschenunwürdige Handlungen werden nicht geduldet. Die von Menschen einst gemachten religiösen Schriften, wie der Koran und die Bibel werden in Zusammenarbeit der Glaubensgemeinschaft überarbeitet. Es wird ein modernes einheitliches Regelwerk für alle Gläubigen herausgebracht.

 

Die Weltneuordnung und die Herstellung von Recht und Ordnung waren bald geschafft. Es dauerte nur wenige Jahre. Auf der gesamten Welt herrschte Frieden, der allerdings immer noch von der Anti-Group, einem kleinen Land, das sich der Weltneuordnung nicht unterordnen wollte, bedroht wurde. Menschenunwürdige islamische Gesetze gehörten der Vergangenheit an. So waren Mann und Frau überall auf der Welt gleichberechtigt. Frauen brauchten beispielsweise zur Heirat keine Zustimmung ihres Waly, dem Vater oder eines nächsten männlichen väterlichen Verwandten. Sie brauchten sich nicht mehr unter Schleiern und Tüchern verstecken. Die Wissenschaftler konnten den Menschen glaubwürdig und verständlich erläutern, dass der Kosmos ein Großlebewesen sei, welches sich wie der Mensch immer weiter entwickelt und das es nur einmal geben kann. Dieses bezeichneten nun die meisten Gläubigen als ihren einzigen Gott. Logischerweise wurde er nicht mehr in übertriebenen Formen angebetet. Damit verschwanden die vielen Glaubensrichtungen aus dem öffentlichen Leben. Ehen zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller, nationaler, konfessioneller oder religiöser Zugehörigkeit, soweit es die noch gab, gehörten zur Normalität. Die verschiedensten Völker der Erde verstanden sich und lebten friedlich miteinander. Konsumgüter gab es bald für alle Menschen auf der Welt in ausreichender Menge. Auch im Land der Muslime, das wieder Heimat vieler ehemaliger Flüchtlinge wurde, lebte man genau wie anderswo auf der Welt, nur kleidete sich ein Teil der Bevölkerung dort traditionell, aber nicht verschleiert. Die große Mehrheit der Muslime hatte keine Probleme mit den neuen Richtlinien.

 

Bald hatten alle Menschen eine ähnliche Weltanschauung und nicht nur das; ihr Äußeres ließ erkennen, dass sie sich ausgezeichnet verstanden. Strafmaßnahmen waren fast nicht mehr erforderlich, es gab keinen Terrorismus und nur wenig Kriminalität. Ökonomische, religiöse, politische, ideologische, oder kulturelle Konfliktgründe gab es nur in Ausnahmefällen.

 

Die Welt war neu aufgeteilt. Aus den einst unwirtlichen Gebieten großer Teile des afrikanischen Kontinents und dem Nahen Osten wurde ein Eldorado nicht nur für Urlauber geschaffen. Die Wüsten wurden bewässert. Aus der Luft wurden Millionen Samenkörner in die Erde geschossen, um eine prächtige Fauna entstehen zu lassen. Diese im Weltraum gezüchteten Pflanzenarten waren durch ihre tiefe Wurzelbildung speziell für Wüstengegenden geeignet. Das Klima hatte sich weltweit durch solche Maßnahmen normalisiert. In den einst heißen Wüstengebieten herrschte ein gemäßigtes Klima.

 

Nach dieser Zeit des Wohlstandes schwappte eine riesige Pandemiewelle über den Erdball, größer und verheerender, als jemals zuvor.

 

 

 

Jetzt schlug Müller das Buch endgültig zu. Er hatte gelesen, was ihn interessierte. Die folgenden Seiten dieses Buches waren ihm bestens bekannt. Das Schlimmste ist Großvater in seinem Leben erspart geblieben, stellte er beruhigt fest. Und dass die Außerirdischen eigene Gewohnheiten an den Tag legen werden, war ihm klar. Ob diese Gewohnheiten annehmbar oder gar gefährlich sein werden, wie die damals auf dem Erdball, stand in den Sternen. Diese Überlegungen nagten an der stoischen Haltung des sonst so coolen Typen Paul Müller, ließen ihn unruhig werden. Rahman hatte ja schon gewarnt und auf den Schutzanzuganzug und das Sicherheitspaket hingewiesen. Das wollte er unbedingt beherzigen.

 

Inzwischen war die Annäherung des Raumschiffes wieder mit bloßem Auge zu verfolgen. Müller sah auf seinem Monitor, wie es sich der Erde schneller näherte. Nach seinen Berechnungen steuerte es tatsächlich die Inselgegend an. Dieses Schauspiel wollte er sich unbedingt vom Strand aus ansehen, keinesfalls etwas verpassen. Hier auf der Insel begannen schon die Abendstunden. Die Sonne stand zwar noch hoch am Himmel, aber nach einer kurzen Dämmerungsphase brach die Nacht in der Äquatorgegend schnell herein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2

 

Die Insel war mit ihrer Größe von 1,64 km² und einer maximalen Höhe von sechs Metern über dem Meeresspiegel recht überschaubar. Es war nichts Auffälliges zu sehen. Das Meer hatte nur geringen Wellengang. Man konnte bei dem klaren Wetter bis zur benachbarten Bakerinsel rüber sehen.

 

Warten und nichts tun war nicht Müllers Ding, schon gar nicht in dieser Situation. Folglich schnappte er sich sein Angelboot und war im Begriff, wie vor dem Dunkelwerden gewohnt, schnell noch in Küstennähe die Angel auszuwerfen, sich um das leibliche Wohl zu kümmern. Alles, was er zum Lebensunterhalt brauchte, hatte er zwar aus Berlin mitgebracht, frisch gefangene Fische gab es dort jedoch nicht. Hier vor der Insel tummelten sich Seehechte in Schwärmen und warteten auf die Fangkünste Müllers, der die reinsten Leckerbissen aus den Fischen zauberte. Zu solchem Fischessen kam sonst schon mal Besuch von den Nachbarinseln vorbei. Werde ich heute außerirdische Gäste damit bewirten können?

 

Müller hielt den Atem an. Eine urplötzlich erschienene Flutwelle spülte sein Boot weit über die Uferlinie hinweg, bis kurz vor sein Haus. Dort kenterte es mit einem Ruck und ließ ihn über Bord gehen. „Wow“ schrie er heraus, als wollte er dieses Getöse überbieten. Er hatte wieder festen Boden unter den Füßen, stand neben seinem Boot und sah dieser abziehenden Welle nach. Es schien ihm, als stürzten Himmel und Meer zusammen. Im selben Moment ertönte von seinem Viha ein Alarmsignal. Rahman meldete sich mit überschlagend lauter Stimme:

 

Sie sind da!“

 

Wer ist da?“, fragte Müller aufgeregt zurück. „Für Späße habe ich im Moment keine Zeit, eine Tsunamiwelle ist mir gerade entgegen gekommen.“

 

Ja, das sind sie doch, unsere alten Bekannten aus dem All“, rief Rahman.

 

So aufgewühlt hatte Müller den sonst so reservierten Rahman sonst nie erlebt. Er hatte vermutlich die Umgebung der Insel von Berlin aus komplett unter Kontrolle.

 

Das Meer beruhigte sich schnell. Aus den Wellen tauchte ein riesiges Konstrukt, ähnlich einer überdimensionierten Traglufthalle auf. „Ich sehe es jetzt auch, das muss das Raumschiff sein“, rief Müller Rahman zu. Völlig happy verfolgten beide das Geschehen auf dem Meer.

 

Das kann kein irdisches Raumschiff sein“, frohlockte Rahman aus Berlin rüber. „Ein Raumschiff in solchen Dimensionen gibt es auf der Erde nicht!“

 

Müller lachte: „Jack, komme so schnell wie möglich zur Insel.“

 

In fünftausend Metern Entfernung wippte eine transparent erscheinende Halbkugel auf den Wellen des Ozeans, das Weltraumschiff. „Gigantisch“, schrie Müller in das Getöse des Meeres hinein, „das hat ja einen gigantischen Durchmesser, sicher tausend Meter.“ Er setzte seine Mikroskopenbrille auf und schrak zurück, als er nun unmittelbar vor sich irgendwelche Kreaturen an mehreren Stellen die Hülle des Raumschiffes durchdringen sah, wie sie nach außen ins Meer glitten. „Was ist denn das? Das sind menschenartige Gebilde!“, johlte er dem Geschehen zu. „Diese Kreaturen flutschen ja nur so aus dem Koloss von Raumschiff heraus!“ Etwas mulmig wurde ihm bei diesem Anblick schon. Großvaters Geschichte erfasste seine Sinne. Ich kann schnellstens in mein Luftblasenboot einsteigen und die Flucht nach Europa antreten, zog er in Erwägung. Dieses Ansinnen schob er aber ganz schnell wieder beiseite. Seine wissenschaftliche Neugierde war groß.

 

Rahman meldete sich wieder. „Bin in drei Stunden vor Ort.“ Ein Okay hatte Müller für ihn drüber, dann eilte er zum Solarhaus, stieg in seinen Strahlenanzug und bewaffnete sich mit dem tödlichen Spray. „Damit kann ich im Ernstfall jeden Gegner besiegen“, sprach er sich Mut zu und dachte dabei an an die mahnenden Worte Rahmans: Ja, er hat recht, wenn er sagte dass man nie vorher weiß, wozu es gut ist. Der Strahlenanzug, der selbst kosmischen Strahlen standhalten würde, aber auch gegen andere äußere Einwirkungen einen guten Schutz bot, schmiegte sich fast allein an den Körper. Diese Ausrüstung hatte Müller zuvor auf der Erde nie ernsthaft benötigt. Jetzt hieß es abwarten und kühlen Kopf bewahren. Mit seiner Brille hatte er aus dem Haus heraus das Umfeld bestens unter Kontrolle und von außen war die Sicht hinein nicht gegeben. Fenster oder Türen waren nicht erkennbar. Ein Eindringen war Unbefugten nicht möglich.

 

Es dauerte fünf Minuten, bis die Außerirdischen an Land kamen, ohne Boot und ohne offensichtliche Hilfsmittel. Sie sind geschwommen, und das ziemlich zügig. Im Wasser glichen sie einem an der Oberfläche ziehenden Fischschwarm, der dann die Brandung gesplittet verließ. Es sah aus, als würden diese Individuen Sesselliften entsteigen. Müller hatte erstmals die wahren Gestalten direkt vor Augen, wie sie sich sofort in Richtung Solarhaus begaben. Auf halber Distanz machten sie Halt. Sie schauten sich fürs Erste auf der Insel um. Außer dem Amelia-Earhart-Signalturm und dem Müllerschen Anwesen gab es ja nichts Weltbewegendes zu sehen. Ihr Interesse galt offensichtlich mehr der Parabolantenne, denn diese betrachteten sie von allen Seiten.

 

Jetzt näherte sich diese Gruppe Aliens dem Haus; noch zwanzig, fünfzehn, zehn Meter, dann machte sie stopp. Eins war schon mal sicher; sie kamen mit der Erdatmosphäre klar und hatten mit der inzwischen eingetretenen Dunkelheit auch keine Probleme.

 

Es waren durchaus menschenähnliche Wesen, ungefähr ein Meter achtzig groß. Die evolutionären Prozesse müssen bei ihnen wie beim Menschen auf der Erde abgelaufen sein, denn die Anatomie schien der des Menschen verblüffend ähnlich. Das Einzige, was sie unterschied, waren auf den ersten Blick Äußerlichkeiten. Die Sinnesorgane, wie Augen, Nase und Mund waren markanter und die Ohren spitzten sich nach oben hin zu. Sie sahen aus, wie kleine Antennen. Merkwürdig war das braune kurze Fell, oder war es eine Art Anzug? Die Hände hatten einige darin wie in einem Muff verborgen. Das Gesicht schien mit einer glasklaren Folie überzogen zu sein. Müller fand sie drollig. Einige, scheinbar die Frauen, hatten ein katzenhaftes, putziges Aussehen. Mittlerweile tummelten sich ca. fünfzig Außerirdische vor dem Haus. Sie kommunizierten mit Zeichen, ähnlich der früher mal verwendeten Morsezeichen. Kurze und lange Signale waren es. Ihre Sprache bestand lediglich aus unterschiedlich aneinandergereihten Dit- und Da-Lauten. Rahman meldete sich.

 

Paul, alles klar, oder besteht Gefahr? Ich komme so schnell es geht und bringe noch drei Leute mit. Vielleicht kannst du ja, wenn alles friedlich abläuft, bis zu unserem Eintreffen schon mal einen Empfang der Aliens vorbereiten.“

 

Müller konnte Rahman beruhigend sagen, „okay, alles in Ordnung. Zunächst habe ich noch mit dem Entschlüsseln ihrer Sprache zu tun, es ist aber nicht kompliziert. Bis nachher.“

 

Von der hereingebrochenen Nacht war draußen nichts zu merken, denn ein dekoratives und effektvolles Farbenspiel erhellte den Strand und die gesamte Insel. Müller lauschte dem Treiben vor dem Haus. Das war eine rege Unterhaltung in den verschiedensten Tonlagen. Und dann klangen diese Geräusche fast wie beruhigende Musik für Wellness, Erholung oder Regeneration, wie sie in den Parks der Großstädte ähnlich zu hören waren. Anmutige Bewegungen, die Wasserpflanzen in heran flutenden Wellen glichen, gaben dieser Begrüßungsvorstellung eine auf der Erde in solcher Vollendung noch nie da gewesene künstlerische Note. Dazu wurde eine Lichtshow geboten, wie sie passender und grandioser nicht sein könnte. Die Außerirdischen kommen höchstwahrscheinlich als Freunde, hatte Müller anhand ihrer friedfertig erscheinenden Handlungen inzwischen eingeschätzt. Aggressive Absichten schloss er aus. Während er die fremden Zeichen dechiffrierte, dauerte das abendliche Programm noch an. Bald zog sich die Gruppe mit Ausnahme von drei Aliens elegant zurück. Wie Vögel bei ihrem Formationsflug bewegten sie sich in der Luft in Richtung Strand. Dort ließen sie sich nieder. Nach diesem faszinierenden Phänomen wandten sich die stehengebliebenen Gestalten dem Haus zu. Und dann verfolgte Müller ein Gespräch in der auf der Erde üblichen Weltsprache. Demnach handelte es sich um zwei Männer und eine Frau. Mit melodischer und warmer Stimme sprach die Frau:

 

Wir wissen, dass sich jemand im Haus befindet und möchten gern mit ihm sprechen, bitte antworte!“

 

Müller war von diesem Annäherungsversuch total überrascht und das in erster Linie, weil diese Aliens die Weltsprache beherrschten. Na klar, er hatte ja den Funkspruch genau in dieser Sprache erhalten, aber das hier war noch eine andere Nummer. In diesem Moment war er sich nicht sicher, ob diese Ankömmlinge wirklich Aliens waren. Oder steckt doch die Anti-Group mit ihrem geheimen Verbündeten dahinter? Nein, ausgeschlossen, diese Wesen hier können fliegen und ein Raumschiff dieser Dimension gibt es auf der Erde nicht. Punkt. Er war von Neugier erfüllt und bis aufs Äußerste gespannt. Nach draußen wollte er sich auf keinen Fall begeben, dazu hatte er einen viel zu großen Respekt vor ihnen. Drinnen im Haus fühlte er sich sicher, hier könnte er mit einem Außerirdischen oder wer es auch immer war, sprechen. Seinem Strahlenanzug vertraute er und das Spray hatte er griffbereit.

 

Ich bin allein im Haus und werde deshalb auch nur einen Besucher empfangen“, rief er in Richtung der Fremden.

 

Die Frau, die zuvor schon das Wort ergriffen hatte, antwortete:

 

Einverstanden, ich werde mich mit ihnen unterhalten.“ Die zwei übrigen Aliens zogen sich zurück, während Müller der Fremden durch einen sich öffnenden Spalt in der Fassade den Zugang gewährte. Die Tür schloss sich hinter ihr. Diese fremde Frau schien ihm nicht gefährlich, im Gegenteil, sie hatte etwas Liebenswürdiges an sich. Mit ihrer angenehm klingenden dunklen Stimme begrüßte sie Müller und setzte sich mit geschmeidigen, lässigen Bewegungen und ohne Aufforderung auf das Sofa. Er entledigte sich unauffällig seines Schutzanzuges und und nahm neben ihr Platz. Da eröffnete sie auch schon das Gespräch:

 

Ich bin Dit-Da vom Planeten Kepler-22r, wie ihr ihn nennt.“

 

Aha!“, reagierte Müller spontan. „Alles klar!“

 

Nein, Paul Müller, um alles zu klären, liegt noch viel Gesprächsbedarf vor uns.“

 

Müller verschlug es die Sprache, denn er war total perplex über diese Frau eines fremden Sonnensystems, die sogar seinen Namen kannte, über ihr selbstsicheres Auftreten. Fast eingeschüchtert saß er neben ihr und lauschte weiter ihren Worten.

 

Da wir seit vielen Jahren in der Lage sind, auf unserem Planeten und im Raumschiff die Bildschirm- und Funkmedien der Erde zu verfolgen, verstehen wir eure Weltsprache. Auch alle anderen Informationen, so auch die der verschiedenen Geheimdienste sind uns bekannt. Deshalb kennen wir uns auch in eurer Politik aus. Wir sind also bestens informiert. Zunächst möchte ich dir aber etwas von unserem Planeten erzählen, damit du mein Outfit und den Grund unseres Besuches verstehen kannst.

 

Einleitend möchte ich dir sagen, dass Kepler-22r und die Erde vor vier Milliarden Jahren von riesigen Asteroiden gleichen Ursprungs getroffen wurden und dass sich das Leben beider Planeten danach gleichermaßen entwickelte. Bei uns gab es einmal eine ähnliche Atmosphäre, wie ihr sie auf der Erde habt. Unsere Sonne spielt aber zurzeit verrückt, sodass ein normales Leben nicht mehr möglich ist. Die Form der elliptischen Keplerumlaufbahn um unsere Sonne Alpha Centauri A ändert sich nicht zum ersten Mal und so stecken wir in einer Eiszeit, die vermutlich erst in hunderttausend Jahren von einer Wärmezeit abgelöst wird. Außerhalb unserer Behausungen haben wir keine Flora mehr. Wir haben im Sommer Temperaturen um -30 °C. Im Winter herrscht strenger Frost von -40 bis -60°C. Auf Kepler-22r herrscht derzeit bereits die 12. Eiszeit seit Bestehen des Planeten. Zuvor gab es eine Million Jahre lang eine Wärmezeit, in der wir Keplermenschen uns entwickelt haben. Bei den jetzigen Umweltbedingungen gibt es kaum Vegetation und wir Kepler-Bewohner können nur in Schutzhallen überleben. Das können wir maximal noch hundert Jahre so durchstehen, dann müssten wir uns abschalten. Außerhalb der Hallen tragen wir Schutzanzüge. Nun wirst du sicher ahnen, mit welchen Erwartungen und Wünschen wir zu euch gekommen sind. Wir sind auf der Suche nach einem geeigneten Planeten für uns und das nicht erst heute.

 

Übrigens sind wir uns schon oft begegnet, das erste Mal waren unsere Vorfahren bereits vor ca. 2200 Jahren bei euch auf der Erde, im heutigen Nahen Osten. Damals kehrten sie nicht auf Kepler-22r zurück, weil es ihnen zu dieser Zeit noch nicht möglich war. Wir hatten aber in den ersten Jahren danach noch Funkkontakt zu ihnen. Auf der Erde wurden sie damals nicht als Außerirdische, sondern als Übermenschen oder gar als Götter gesehen. Sie wurden zum Teil verfolgt und sogar getötet. Einige dieser Vorfahren hatten trotzdem Fuß fassen können. Durch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und ihren Fleiß kamen sie in vielen Ländern der Erde zu Reichtum und Wohlstand. Aber ihre Verfolgung riss bis in die nahe Vergangenheit nicht ab. Noch heute fließt Keplerblut in den Adern mancher Menschen auf der Erde. Aber auch im Kosmos hatten wir insbesondere in den vergangenen 100 Jahren im verborgenen Kontakt mit euch. Heute sind wir so weit, dass wir viele Ziele im Weltall in relativ kurzer Zeit erreichen können, ohne dort dauerhaft bleiben zu müssen. Wir wissen, dass auch ihr an so einem Programm arbeitet, und würden euch gern dabei helfen. Unser Interesse an einer Ansiedlung auf der Erde ist groß, weil die Erde unserem Planeten, wie er einst mal war, ähnelt und geeignete Lebensbedingungen für uns bietet.

 

In den letzten zweitausend Jahren hatten wir schon viele Planeten der verschiedensten Sonnensysteme, zum Teil mit intelligentem Leben entdeckt und besucht. Eine Ansiedlung auf einem dieser Planeten war aus den unterschiedlichsten Gründen bisher nicht möglich. Kreatives als auch primitives Leben fanden wir vor. Einen Planeten mit annehmbarem Klima und einer unbeschreiblich schönen und märchenhaften Fauna entdeckten wir auch. Er schien geradezu wie prädestiniert für uns zu sein. Innovative Bewohner dieses Planeten machten jedoch eine Annäherung unmöglich, ja es wäre dort sogar gefährlich für uns. Diese Wesen ähnelten riesigen Ameisen. Sie gaben uns mit einer bemerkenswerten Strategie unmissverständlich zu erkennen, dass wir unerwünscht seien. Ihre Kommunikation untereinander war nicht zu deuten, sie erfolgte im Ultrahochfrequenzbereich. Diese Kreaturen fegten uns auf unerklärliche Weise regelrecht von ihrem Planeten hinweg. Schade, es hätte ein Schlaraffenland werden können. Auf anderen Planeten mit primitivem Leben waren die Umweltbedingungen für uns ungeeignet. Deshalb kehren wir nach 2200-jährigem Suchen wieder auf die Erde zurück, mit der Hoffnung, dass wir nach so langer Zeit gut aufgenommen werden.

 

Unsere Beobachtungen ergaben, dass die Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen vorbei ist und dass auf der Erde ein friedliches Leben miteinander wahrscheinlich ist. Einen kleinen Disput sollten wir, wenn wir einmal Erdmenschen sein dürften, gemeinsam bereinigen, aber soweit sind wir noch nicht.

 

Wir haben auf unserem Planeten keine große Zivilisation mehr, es sind nur noch ca. eine Million Bewohner.“

 

 

 

Dit-Da, sei herzlich willkommen in meinem Haus und auf der Erde“, begrüßte Müller seinen ungewöhnlichen Gast. „Ich bin beeindruckt von deinen Ausführungen. Für mich ist es interessant zu hören, wie es anderswo im Weltall aussieht. Nach all dem Gehörten kann ich verstehen, dass ihr euch auf der Erde niederlassen möchtet. Ich kann mir auch ein Zusammenleben mit eurem Volk vorstellen, ohne es bereits zu kennen, würde mich gern für euch einsetzen. Erwähnen möchte ich aber, dass auch wir von Gefahren nicht verschont sind.“

 

Dit-Da bedankte sich für die verständnisvollen Worte. Dabei stand sie vom Sofa auf und stellte sich vor Müller in Positur. Er fand diese Frau, wie sie mit ihrem Katzengesicht und den spitzen Fellohren so vor ihm stand, reizend. Es war keine Zuneigung wie zu einem Menschen, aber auch nicht wie zu einem Tier. Es lag wegen des Felles mit den Tierohren irgendwie dazwischen. Sollte dieses Fell der von ihr erwähnte Schutzanzug sein? Wenn ja, dann wäre er aber perfekt angepasst. Es war aber die menschliche Sprache da. Am liebsten würde Müller mit dieser Dit-Da kuscheln, wie etwa mit einer Katze. Er konnte diese fremde Frau, so wie sie vor ihm stand, überhaupt nicht einschätzen, sie aber machte seiner Unentschlossenheit ein unverhofftes Ende, als sie sagte:

 

Ich würde gern meinen Anzug ablegen, hier in deinem Haus benötige ich ihn nicht. Ich fühle mich ohne diese Kleidung wohler.“

 

Ohne dass Müller richtig bewusst war, was ihn nun erwarten würde, sagte er:

 

Bitte schön, leg ihn ab!“

 

Dit-Da öffnete mit einem raschen Handgriff ihren Schutzanzug und war im Nu von ihm entledigt. Das Fell, samt den niedlichen Ohren warf sie neben das Sofa und saß nun im feinsten Eva-Kostüm dicht neben Müller.

 

Verschämt sah er hinüber. Von dieser einmaligen Schönheit, die er in solcher Vollendung auf Erden noch niemals gesehen hatte, war er völlig überwältigt. Ohne ihren Schutzanzug, der sie zuvor von Kopf bis Fuß überzogen hatte, sah sie beinahe wie ein Mensch der Erde aus, aber eben von einem anderen Stern.

 

Ihr geheimnisvoller Blick aus großen, von langen Wimpern umgebenen Augen traf ihn sanft und spielerisch, beinahe einer streichelnden Berührung gleich. Wie hypnotisierend wirkten diese schmachtenden Augen mit ihrem Glanz auf ihren Betrachter Paul Müller, dem neben dem verführerischer Blick auch ein schön geformter Schmollmund, die schmale, beinahe stupsige Nase und die unter den langen schwarzen Haaren versteckten verhältnismäßig kleinen Ohren nicht verborgen blieben. Eine samtene, zimtfarbene Haut ließen ihren Körper in einem bräunlichen Teint erscheinen.

 

Dit-Da hatte Müller in ihrer Erscheinung total überrascht und überwältigt. War es kühl kalkuliert oder das Normalste der Welt für diese Frau? Er vermochte sich in dem Moment kein Urteil zu bilden. Er war in seinem bisherigen Leben wahrhaftig kein Waisenknabe und als junger Mensch im Übrigen kein Kostverächter. Er war mit einer reizvollen Frau liiert und sie hatten gemeinsam einen Sohn. In solch einer Situation hatte er sich aber noch niemals befunden.

 

Obwohl Dit-Da mit Ausnahme ihres Erscheinungsbildes überhaupt kein anzügliches Verhalten an den Tag legte, schien Müller etwas irritiert und hatte Mühe, den weiteren Worten seines weiblichen Gastes zu folgen.

 

Dit-Da schien unbeirrt und erzählte weiter, was es mit dem Fellanzug auf sich hat. Sicher entging ihr das merkwürdige Verhalten Müllers nicht.

 

Unser Schutzanzug“, fuhr sie daher rasch fort, „besteht aus einem strapazierfähigen Kunstfell. Die künstlichen Tierohren, deren Form ein besseres Hören ermöglicht, nutzen wir, wenn wir uns in fremder Umgebung befinden. An diesen haben wir kleine Antennen angebracht. In unserem Körper, direkt unter der Haut ist ein Computer, unser Organisator implantiert. Er ist mit seiner Nanotechnologie nicht größer, als eine Stecknadelkuppe. Dieser Organisator enthält einen Prozessor und einen Datenspeicher und ist ständig mit unserem Superhirn 'Comprob' in Verbindung. Als Energiequelle wird ein Thermoelement genutzt, das die Temperaturdifferenz zwischen Hautoberfläche und innerer Körperwärme nutzt. Neben der Kontrolle der Organe reguliert der Organisator das Klima unter dem Fell. Dieser Organisator steuert die im Fellgürtel installierten Flugdüsen, die auch bei der Fortbewegung im Wasser von bedeutung sind. Wir organisieren mit ihm übrigens auch unser Alltagsleben.“

 

Müller hatte Mühe, Dit-Das Erklärungen zu folgen. So viel künstliche Intelligenz auf einmal machte ihn konfus. Sie bemerkte das ohne Zweifel und beendete diesen Themenkomplex.

 

Logischerweise hatte Müller versucht, alles in sich zu speichern und Näheres über den Organisator und diesen Comprob, samt seiner Komponenten zu erfahren. Dit-Da erklärte nur kurz, dass es sich bei dem Comprob um ihren großen computergestützten Manager aller Aktivitäten handele. Dann sagte sie schnippisch:

 

Du kannst mich ja zu Kepler-22r begleiten.“

 

Müller war entzückt von dieser Frau und würde gern mit ihr eine Weltreise unternehmen, aber doch nicht gleich sofort. Ja und Amanda hätte mit Sicherheit auch etwas dagegen. Und wie die IWZ dazu stehen würde, wusste er nicht. Er wich aus.

 

Gern würde ich das irgendwann tun!“

 

Nicht irgendwann, nein, sofort! Dann könntest du dich mit dem Organisator und dem Comprob genauer befassen. Zwei Dinge sind uns aber noch wichtig“, äußerte sie sich weiter: „Wir würden zum einen sehr gern mit euch befreundet sein und auf der Erde zusammen leben wollen, auch in Familien. Kannst du dir eine enge Beziehung zu mir vorstellen und würdest du mich auf dem Flug zu Kepler-22r gleich nach unserer Begegnung heute begleiten?“ Dabei sah sie Müller mit ihren großen Augen so hinreißend an und schmiegte sich an ihn, dass er nicht in der Lage war, ihr zu widerstehen. Er vermochte zu wissen, was jetzt geschehen würde, und eine gewisse Unsicherheit überfiel ihn. Doch er begehrte Dit-Da, wollte diese Frau mit jeder Faser seines Körpers. Er war wild entschlossen, sich in unbekannte Welten entführen zu lassen.

 

Dit-Da küsste ihn, beinahe wie auch andere Frauen der Erde küssten, und doch war es anders. Nahezu gewalttätig öffnete sie seine Lippen mit ihren und stemmte die Hände gegen seine Brust, als wollte sie ihn wieder abstoßen. Augenblick drängte sie sich aber schon unter ihn. Ihre Hände glitten dabei über seinen Rücken. Ihr warmer Atem umspielte sein Gesicht. Er hatte seine Augen für kurze Zeit geschlossen und ihm war, als stünde sein Körper in Flammen. Dann schrie sie auf, verkrampfte sich, ihr Fleisch und Blut schienen in eine Starre geraten zu sein, die ihn wie gefesselt über sich hielt. Die großen dunkle Augen fixierten ihn dabei, während ihre Fingerspitzen sich in seine Haut bohrten. Er ergab sich seinen Gefühlen, ließ ihnen freien Lauf. Als sich wenig später Dit-Das Atemzüge beruhigt hatten, wurde Müller bewusst, was ihm soeben widerfahren war. Ihre Leidenschaft hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Sie hatte vermutlich erreicht, was sie anstrebte und hatte es lüstern über sich ergehen lassen. Habe ich etwas anderes getan, fragte er sich. Nein, ich hatte es aber nicht so orgiastisch beabsichtigt, wollte meine Emotionen nicht außer Kontrolle geraten lassen.

 

Später lagen sie eine gefühlte Ewigkeit dicht beieinander auf der Couch und ließen nur langsam die Wirklichkeit wiederkehren. Er spielte mit ihren langen schwarzen Haaren.

 

Dit-Da brach das Schweigen:

 

Paul, du bist mir noch eine konkrete Antwort schuldig.“

 

Er überlegte einen Moment und sagte dann:

 

Woher kennst du überhaupt meinen Namen?“

 

Dit-Da lachte.

 

Kunststück – alles, was ich als wertvolle Information erachte, was meinen persönlichen Interessengebieten entspricht, empfange ich. Es wird in meinem Organisator abgespeichert. Dein Name war halt dabei. Und übrigens findet man dich fast täglich in den Zeitungen und anderen Medien.“

 

Aha. Ja, und zu deiner Frage – ich kann mir schon eine feste Beziehung zu dir vorstellen, doch müsste ich zuvor noch einiges klären. Und mitkommen würde ich auch gern, nur nicht alleine. Ich könnte mir vorstellen, noch zwei oder drei Wissenschaftler der Erde mitzunehmen, und –“

 

Was und?“

 

Und ich halte es für meine Pflicht, Amanda zu informieren.“

 

Wer ist denn Amanda?“

 

Meine Frau, das weißt du doch sicher auch ganz genau.“

 

Dit-Da setzte einen bis dahin noch nicht gezeigten Blick auf und ließ mit ihrer Reaktion erkennen, dass diese Antwort ihr ganz und gar nicht gefiel.

 

Mit einer Frau neben mir bin ich nicht einverstanden, denn du hattest dich vorhin für mich entschieden. Nun möchte ich dich für immer allein haben und nicht nur für eine Stunde. Liebe empfinden wir als sittliche Norm fester Verbundenheit. Ihr habt doch so ein herrliches Sprichwort, wer A sagt, muss auch B sagen. Wir werden wahrscheinlich bald zwei kleine Kinder haben, denen wir eine Zukunft frei von Sorgen gestalten sollten. Deshalb lade ich dich jetzt schon zu mir auf Kepler-22r ein. Wenn sie dann geboren sein werden, sollten wir zurück zur Erde reisen und mit ihnen auf deiner Insel unsere ersten gemeinsamen glücklichen Jahre verbringen. Werden sie auch so schöne blaue Augen haben, wie du?“ Sie fiel Müller um den Hals, Tränen kullerten über ihre Wangen. So verharrten beide einen Moment, bis er sich sanft löste und mit seinem Taschentuch die Tränen abtupfte.

 

Dit-Da“, sagte Müller mit belegter Stimme, „ich würde sehr gern mit dir schon jetzt mitreisen, aber es geht leider nicht. Bei uns gibt es Regeln und Gesetze, die ich einhalten muss. Aber ich verspreche dir, dass ich bis zu deinem nächsten Besuch bei uns alles geklärt haben werde. Vielleicht kannst du bald mit deinem Volk für immer bei uns bleiben. Sag mal Dit-Da, du sprachst von zwei Kindern, die wir haben werden. Bist du denn sicher, dass du schwanger wirst, und wenn, dass es Zwillinge werden?“

 

Ja, ich bin mir sicher, denn wir waren fest in Liebe verbunden. Kepplerfrauen bekommen übrigens fast ausschließlich Zwillinge. So, jetzt werde ich wieder zu meinen Frauen und Männern zurückgehen. Wir haben ja alles Wichtige besprochen.“ Sie streifte ihren Schutzanzug über.

 

Nein, du solltest bitte noch warten, bis meine Kollegen aus Berlin eintreffen. Es gibt noch sehr viel zu besprechen, vor allem aber auch zwischen uns beiden.“

 

Dit-Da hatte ihren Anzug bereits geschlossen. Sie schmiegte sich mit ihrem jetzt wieder wuscheligen Fellgesicht an Müller. Die folienartige Schicht des Raumanzuges vor ihren Augen sah er wie eine regennasse Fensterscheibe. Und als Dit-Da unter Schluchzen herzzerreißend, „Paul, ich hab mich in dich verliebt“, sagte, wurde Paul Müller, den sonst nichts erschüttern konnte, melancholisch. Er war zu keiner Antwort fähig. Fast von Ohnmacht befallen drückte er diese Frau, in die er sich unsterblich verliebt hatte. Ihr Schluchzen durchzuckte seinen Körper. Unerwartet schnell hatte sie sich wieder gefasst und löste sich sanft von ihrem Paul. „Ich muss gehen“, sagte sie entschieden. „Wir reisen jetzt zu unserem Planeten zurück, um die Umsiedlung zur Erde vorzubereiten. In einem halben Jahr sprechen wir mit euch über unsere Vorstellungen zur Erdansiedlung, und in einem Jahr sehen wir uns dann hoffentlich auf der Erde wieder. Vielleicht sind wir dann schon eine kleine Familie. Nun muss ich dich aber wirklich verlassen, wenn du nicht mit mir kommen willst. Es fällt mir schwer. Wenn du mich bis zu unserem Wiedersehen brauchst, dann streichele und rufe mich. Ich weiß jetzt nicht, wie ihr das nennt, aber du wirst mich schon finden.“

 

Dit-Da bewegte sich in Richtung Tür. Anscheinend bekam sie eine Information von draußen. Dieser Abschied kam Müller doch zu plötzlich und dieses „streichle und rufe mich“ konnte er überhaupt nicht deuten.

 

Du sprachst vorhin von zwei Dingen, die dir wichtig wären“, erinnerte er an ihr zweites angesprochenes Interesse, um noch etwas Zeit herauszuholen. „Welches ist denn das Zweite? Und vielleicht würden wir euch ja doch mit einer Abordnung zu Kepler-22r begleiten, doch müssten wir uns dazu noch vorbereiten.“

 

Nur dich alleine möchte ich mithaben“, sagte Dit-Da nochmals eindeutig. „Du brauchst dich auch nicht vorzubereiten, denn der Start der Reise steht unmittelbar bevor. Was du benötigst, bekommst du von uns. Ach ja, da war noch die zweite offene Frage. Wir kennen auf der Erde ein kleines Land. Ihr nennt es Anti-Group, mit denen hatten wir ab und zu Kontakt. Auch sie kennen unsere Vorstellungen der Umsiedlung auf die Erde. Sie würden gern mit uns gemeinsam ihre Gesellschaftsordnung auf der gesamten Erde durchsetzen. Ihr Ziel: Gesellschaftlicher Reichtum nach dem Prinzip, jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, und berufen sich dabei auf den deutschen Philosophen Karl Marx. Von ihrem Ziel sind sie aber noch so weit entfernt, wie die Erde von Alpha Centauri. Sie brauchen Hilfe. Warum wollt ihr mit ihnen nicht zusammen arbeiten? Warum meidet ihr sie? Wir wollen, dass auf der Erde alle Menschen, egal wo sie herkommen, zusammenarbeiten. Das werden wir auch durchsetzen, wenn wir einmal ständig auf der Erde leben werden.“

 

Müller kam gerade noch dazu, ihr zu antworten:

 

Ich kann allein nicht mitkommen und wir haben nichts gegen eine Zusammenarbeit mit der Anti-Group, aber sie lehnen das unter normalen Voraussetzungen ab.“

 

Das Ende der Antwort hatte Dit-Da sicher nicht mehr mitbekommen, denn sie war bereits aus dem Haus verschwunden. Und als Müller nach draußen sah, konnte er am Horizont nur noch einen Schwarm Keplermenschen verschwinden sehen. Wie Zugvögel reihten sie sich bei ihrem Flug auf.

 

 

 

Paul Müller ging nach draußen. Der Platz vor seinem Haus, eben noch mit außerirdischem Leben erfüllt, war plötzlich wie leergefegt. Vom Meer her vernahm er wieder diesen tsunamiartigen Wellengang und sah, wie das gigantische Raumschiff sich erhob, um dann am Horizont bald zu verschwinden. Wie gefesselt stand er in Gedanken versunken am Strand. Er verstand nicht, dass ihn dieses extraterrestrische Wesen mit ihrem Zauber für sich gefangen nehmen konnte. Eine bisher nie gekannte Mischung von Glückseligkeit und Traurigkeit übermannte ihn. Die Geschehnisse in seiner Wohnung machten ihn nachdenklich und er stellte sich immer wieder die Fragen: Was wollte Dit-Da konkret von mir? War das alles eine Inszenierung, eine Kampagne, um mich in ihren Bann zu ziehen und damit die Übersiedlung der Keplers zu begünstigen? Oder meinte sie es in der Tat ehrlich mit ihrer Liebeserklärung? Ist sie wirklich schwanger? Wenn ja, wird sie dann zwei Babys zur Welt bringen oder eines, wie es auf der Erde Normalität ist?

 

Fluggeräusche holten Müller auf den Boden der Tatsachen zurück. Er schaute nach draußen. Weit am Horizont, wo das Meer scheinbar an den Himmel stieß, tauchte ein heller Punkt auf. Schnell nahm dieser kleine Punkt die Gestalt eines Düsenjets an. Neben dem Haus öffnete sich wie ein riesiges Haifischmaul grollend die Erde, in dem der Jet nun verschlungen wurde. Ein zweites Grollen gab der Erde an dieser Stelle ihr natürliches Aussehen zurück.

 

Das war noch alte Technik der Amerikaner – „genial“, schwärmte Müller. Hier hatten sie vor langer Zeit einen selbst vor ABC-Waffen geschützten unterirdischen Flughafen für Zwischenstopps errichtet. Er nutzte immer noch die darin befindlichen Klimaanlagen, Schlafräume für Gäste, eine intakte Stromversorgung und vieles mehr. Schnell begab er sich in sein Haus zurück, um die Kollegen zu empfangen. Er überprüfte flüchtig sein Sofa und legte eine Decke darüber. Vom Tisch her funkelte ihn ein kleiner geschliffener, leuchtend grüner Stein in Form eines Quaders an. Dieser Stein gehörte nicht zum Inventar des Hauses. Hat Dit-Da den dort hingelegt oder hat sie ihn versehentlich liegengelassen? Dieser Stein gab Müller Rätsel auf. Sollte er ein Andenken oder Geschenk sein, vielleicht ein keplerscher Smaragd? Egal, ich muss dieses edle Etwas unbedingt schnell außer Sichtweite bringen. Im Schlafzimmer nebenan hatte er einen Safe, dort landete das rätselhafte Stück.

 

 

 

 

 

 

 

3

 

Müller kam in seine Wohnung zurück. „Das war knapp“, sagte er vor sich hin, denn dem gläsernen Lift entstiegen in diesem Moment Rahman und seine drei Mitstreiter. Es waren die Ärztin Georgia Georgi, der Biologe Ali Abdal-Bozi und der Techniker Jakob Baueli.

 

Na Jack, eine gute Reise gehabt?“, begrüßte Müller zunächst Rahman und klopfte ihm dabei mehrmals mit der flachen Hand freundschaftlich auf den Rücken. „Du hast ja eine schlagkräftige Truppe mitgebracht.“

 

Rahman erwiderte die Schläge nicht minder heftig. „Ja, Paul“, sagte er mit vibrierender Stimme, „ich wusste ja nicht, was mich hier erwartet, weiß es eigentlich immer noch nicht.